Das Haus in Georgetown
PROLOG
Dezember 1999
Immer wenn sie an „Granger’s Food and Gas“ vorbeifuhren, hatten die Bronsons das Gefühl, die Ziellinie eines Marathons zu überqueren: Ihr Wochenend-Cottage lag nur zwei Meilen hinter der Tankstelle, die gleichzeitig ein Gemischtwarenladen war. Für Faith Bronson war „Granger’s“ das ersehnte Signal, dass sich ihre Zeitreise vom entwickelten Norden Virginias in den ländlichen Westen des Landes dem Ende näherte. Mittlerweile hatte ihr Sohn Alex seine ältere Schwester Remy für gewöhnlich an den Rand des Wahnsinns getrieben, und selbst Faith, die Alex’ grenzenlose Energie insgeheim bewunderte, war dann drauf und dran, ihn zu den Taschen und Lebensmitteln in den Kofferraum zu sperren.
David, ihr Ehemann, pflegte zu behaupten, dass sich seine Atemfrequenz und sein Herzschlag spürbar verlangsamten, sobald sie „Granger’s“ mit seinen altertümlichen Zapfsäulen, seinen Abschleppwagen und Reifenbergen erreicht hatten. Es gehörte zum Ritual, dass er in diesem Augenblick den Hemdkragen lockerte und sich in den Fahrersitz lümmelte, als befände er sich nun außerhalb des Blickfeldes irgendeines unsichtbaren Schiedsrichters und stünde nicht mehr unter Beobachtung.
An diesem Vormittag saß Faith jedoch allein im Familien-Volvo. Es waren nur noch zehn Tage bis Weihnachten, und man hatte „Granger’s“ mit schier endlosen Lametta- und Fransengirlanden geschmückt. Als sie zum Tanken einbog, fühlte sie sich in der Stille, die ihr beim Aufbruch vor anderthalb Stunden noch so verheißungsvoll erschienen war, bereits unbehaglich.
„Morgen, Mrs. Bronson. Und frohe Weihnachten.“ Als sie ausdem Wagen stieg, hob Tubby, der Inhaber des Ladens, seine knotige Hand zum Gruß. Tubby war dünn wie eine Bohnenstange, und seine Latzhose warf überall Falten. Wie die Hosenträger es schafften, auf diesen hängenden Schultern Halt zu finden, war ihr schon immer ein Rätsel gewesen.
„Frohe Weihnachten, Tubby.“ Sie schraubte den Tankdeckel ab und machte sich an der Säule zu schaffen, aber Tubby nahm ihr die Zapfpistole gleich wieder ab.
„Gibt mir ‘n guten Vorwand, noch draußen zu bleiben. Letzter schöner Tag, bevor der Winter uns heimsucht, denk ich.“
Das sah Faith genauso. Das Wetter war zu warm für die Jahreszeit, eine angenehme Überraschung. In der Frühe hatten die Sonnenstrahlen sie geweckt, die ihr Gesicht und ihre Schultern streichelten. Sie hatte die Bettdecke aufgeschlagen und war schlaftrunken ans Fenster getreten, wo sie einen der vollkommensten Sonnenaufgänge erblickte, den sie je erlebt hatte. David war noch nicht von der letzten Geschäftsreise des Jahres zurückgekehrt, und Alex, der sich normalerweise für jede Kapriole von Mutter Natur begeistern konnte, murrte, als sie ihn weckte, um diesen Anblick mit jemandem zu teilen. Alex war jetzt elf, und sie versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass diese Maulerei in den nächsten Jahren zur Tagesordnung gehören würde.
Auch nachdem Faith die Kinder zur Schule gebracht hatte, hielt die Magie des Morgens noch an. Bevor er sich in einen ganz gewöhnlichen Tag verwandeln konnte, folgte Faith einer Eingebung: Sie rief ihre Mutter an und bat sie, die Kinder am Nachmittag von der Schule abzuholen und über Nacht zu sich zu nehmen.
Lydia Huston, Senatorengattin durch und durch, warf einen Blick in ihren Kalender, der stets mit Wohltätigkeitsveranstaltungen, Friseurbesuchen und Fototerminen voll gepackt war. Obwohles bei ihr in der Vorweihnachtszeit – wie sie ihrer Tochter deutlich zu verstehen gab – noch hektischer zuging als sonst, gelang es ihr, es so einzurichten, dass Faith bis morgen verreisen konnte. Lydia ermahnte sie aber, eine derart rücksichtslose Spontaneität nicht zur Gewohnheit werden zu lassen.
Obwohl in ihr die Furcht aufgekeimt war, eine Dummheit zu begehen, hatte Faith ihre Teilnahme am letzten Vorbereitungstreffen der Dankeschön-Weihnachtsfeier für die Lehrer abgesagt, ihre Sachen in den Wagen gepackt und war aufs Land gefahren.
„Heut den Sonnenaufgang gesehn?“ fragte Tubby. „Hat mich geweckt, direkt aus dem Bett geworfen. Mein Daddy hat immer gesagt, so ein Sonnenaufgang bringt große Veränderungen. Gottes Art, was anzukündigen.“
Faith war froh, ihre Begeisterung mit jemandem teilen zu können. „Heute muss er etwas ganz Großes vorhaben.“
„Nur mit den Leuten, die das gesehn haben. Nich mit allen. Nix wie das Ende der Welt oder so.“
Faith warf einen Blick auf
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