Die Brut
arbeiten alle mit Hochdruck, Frau Simon. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
Tessa zögerte. »Ich würde morgen Vormittag gern für eine Stunde zu einer Kollegin fahren«, sagte sie schließlich. »Sie veranstaltet am Wochenende eine Benefizauktion, ich habe ihr schon vor Wochen versprochen, ein paar abgelegte Kleider vorbeizubringen.«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spricht«, antwortete der Kommissar und lächelte sie an, als teilten sie ein Geheimnis. »Wenn Sie sich dazu imstande fühlen.«
Einen Moment glaubte Tessa, in seinen Augen den Bernstein wieder gesehen zu haben. Sie hatte sich getäuscht. Es war nur die Abendsonne.
»Danke«, sagte sie. Und ging zur Treppe. Sebastian starrte an ihr vorbei in den Himmel hinaus. Der Mond würde sehr hell leuchten in dieser Nacht.
S
ie konnte nicht glauben, dass ihnen kein Wagen folgte. Immer wieder drehte sie sich um. Einmal hatte sie das Gefühl gehabt, den dunkelblauen Opel, der an der Ampel neben ihnen hielt, an der vorletzten Ampel auch schon gesehen zu haben, dann blinkte der Opel und bog ab. Die Leichtigkeit, mit der der Kommissar sie hatte ziehen lassen, erschien ihr grotesk angesichts der Hartnäckigkeit, mit der er sie im Krankenhaus verfolgt hatte. Aber damals hatte er keine Spur gehabt, war übernervös gewesen. Heute hatte er das Gefühl, in eine bestimmte Richtung zu ermitteln. Und die Richtung hatte nichts mehr mit der Richtung zu tun, in die Tessa sich bewegte.
Die Luft im Taxi war schlecht, der Wagen schien keine Klimaanlage zu besitzen. Sie öffnete auf ihrer Seite das Fenster einen Spalt. Auch die frische Luft vermochte den Geruch nach kaltem Zigarettenrauch nicht zu vertreiben. Ein besoffener Fahrgast hatte wohl vor nicht allzu langer Zeit in den Wagen gepinkelt. Tessa drückte die große schwarze Papiertüte, in der sie ihren letzten Wintermantel nach Hause getragen hatte, fester an sich.
Schon weit vor dem Friedhof drängten sich die Massen, der Fahrer hupte, es gab kein Durchkommen mehr. Tessa verstand nicht, wieso die Polizei die Straßen rund um den Friedhof nicht gesperrt hatte. Es war für die geladenen Gäste eine Zumutung, sich ihren Weg durch die hysterischen Teenies bahnen zu müssen. Sie bezahlte den Fahrer. Bevor sie ausstieg, holte sie aus der Papiertüte den schwarzen Hut mit dem langen Schleier und setzte ihn auf. Das schlichte schwarze Leinenkleid hatte sie schon am Morgen angezogen, weder Sebastian noch die Psychologin hatten sich gewundert.
Hunderte von Gerüchen streiften Tessas Nase – billiges Parfüm, gescheitertes Deodorant, Schweiß–, als sie in die Menge eintauchte. Vor allem Mädchen waren zu der Beerdigung ihres Idols gekommen. Fast alle hatten sie weiße Blumen dabei. Und schwarze Panther. Wenn Tessa sich umschaute, kam sie zu der Überzeugung, dass in der gesamten Stadt die Stoffpanther ausverkauft waren.
»Would you know my name
if I saw you in heaven?
Would you feel the same
if I saw you in heaven?
I must be strong and carry on
‘
Cause I know I don’t belong here in heaven …«
Sie schob sich durch eine Gruppe Teenager, die Nualas letzten Hit sangen und in die Hände klatschten. Zwei schwarzhaarige Mädchen umarmten sich und weinten. Die Schulklassen mussten an diesem Morgen sehr leer sein.
Ein Junge, ein Mädchen, Geschwister womöglich, hielten ein selbst gemaltes Transparent in die Höhe:
Nuala, for us you live!
»Lassen Sie mich durch. Ich bin geladener Gast. Bitte lassen Sie mich durch!«
Tessa drückte die Papiertüte fester an sich. Es herrschte ein so chaotisch-gnadenloses Gedränge, wie nur fanatisierte Minderjährige es zustande brachten. Nummernbedruckte T-Shirts, gepiercte Bauchnäbel, lange glatte Pferdeschwänze rempelten sie an wie beim Autoscooter, stießen sie herum, bis Tessa endlich die Friedhofsmauer erreichte. Blumen, Kerzen und Stoffpanther türmten sich davor als zweiter Wall. Eine Gruppe Mädchen kniete am Boden und betete. Ihre offenen Haare streiften beinahe die Flammen.
Tessa ließ sich mit der Menge nach rechts treiben, kurz vor dem Eingangstor entdeckte sie die ersten Absperrgitter. Noch eine Gruppe Jungs, die ein lebensgroßes Plakat von Nuala über ihren Köpfen wandern ließen –
Nuala rules! Nuala rules!
–, dann hatte sie es geschafft.
Ein Dutzend farbiger Sicherheitsmänner in schwarzen Anzügen und weißen Hemden kontrollierte den Zugang zum Friedhof. Tessa zog die Einladungskarte aus ihrer Handtasche. Ein feines Frösteln lief über ihren Körper, obwohl
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