Die Brut
der Sommertag nicht weniger heiß war als die vergangenen. Im Herzen der Menge mussten es über fünfzig Grad gewesen sein.
»
Yes, Ma’am, please
.«
Der Mann, der zwei Köpfe größer und doppelt so breit war wie Tessa, trat zur Seite. Sie machte einige rasche Schritte, weg vom Eingang, weg von den Gerüchen und Lauten der konfusen Masse. Steinchen schoben sich in ihre offenen Sandalen, sie spürte sie nicht.
»Nuala! Nuuuuuaaaaalaaaaa!!«
Draußen schwoll ein Schrei an, so als hätte sich das Idol endlich blicken lassen. Tessa war sicher, dass Nualas Sarg längst durch einen Hintereingang auf den Friedhof gefunden hatte. Vielleicht hatte man der Menge eine andere Holzkiste hingeschoben. Doppelgängertum noch post mortem.
Tessa beschleunigte ihren Schritt. Die Beerdigung ihrer Mutter musste die letzte Beerdigung gewesen sein, bei der sie gewesen war. Ein strahlender Herbsttag. Feli und sie hatten ihre dunklen Schottenröcke angezogen, die mit den großen Sicherheitsnadeln, die sonst für die seltenen Auftritte mit dem Schulchor reserviert waren. Aus Furcht, sie könnten sich erkälten, hatte ihr Vater darauf bestanden, dass sie unter den Röcken wollene Strumpfhosen trugen, die viel zu warm waren. Das Grab der Mutter lag direkt an der Friedhofsmauer. Ein Apfelbaum, der auf der anderen Seite wuchs, streckte seine Äste mit den letzten vollreifen Früchten über die Mauer. Nie würde Tessa den Geruch der zertrampelten, gärenden Äpfel vergessen, der über dem Grab lag und noch tagelang an den Sohlen ihrer dunkelblauen Lackschuhe hing. Immer wieder waren Äpfel ins offene Grab der Mutter gepoltert, die Trauergemeinde war zusammengezuckt, aber alle taten so, als sei nichts, bis Tessa es nicht mehr aushielt und lachte. Ihre Großmutter hatte ihr erschrocken die Hand über den Mund gelegt. Als sie endlich ans Grab der Mutter vortreten durfte und die vielen aufgeplatzten Äpfel sah, die überall auf dem Sarg lagen, musste sie wieder lachen, aber so, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen und ihre Großmutter sie vom Grab wegzog. Später, beim Leichenschmaus, als sich die Erwachsenen darüber unterhielten, dass die Beerdigung die Mädchen vielleicht überfordert habe und man sie besser zu Hause gelassen hätte, sprang Tessa auf, dass ihr Kakao umfiel, und rief:
Aber Mama war doch allergisch gegen Äpfel
, und rannte davon.
Tessa hatte keine Ahnung, ob sie in die richtige Richtung ging. Ihre Arme schmerzten inzwischen vom Gewicht der Tüte. Vorsichtig prüfte sie, ob die Papiergriffe noch hielten. Da entdeckte sie die Fliegen. Fünf, sechs ölig glänzende Schmeißfliegen, die um die Tüte herumschwirrten. Tessa riss sie in die Höhe, schlug mit der freien Hand nach den Insekten. Sie rannte, knickte um, weiter, alte Lärchen, die ihre Äste in den Weg hängen ließen, streiften ihr den Hut vom Kopf, sie rannte weiter, dann merkte sie, dass sie ohne den Hut nichts anfangen konnte. Der ganze Friedhof schien ihr plötzlich lebendig, Käfer krochen über den Weg, Wespen, Mücken, Bienen kreisten in der Luft, überall surrte und brummte es.
In der Ferne hörte Tessa Gesang. Sie drosselte ihren Schritt. Als sie die nächste große Kreuzung erreichte, sah sie den Trauerzug von links kommen. Es mochten hundert, zweihundert Menschen sein, die dem schwarzen Sarg, der von sechs riesenhaften Männern getragen wurde, folgten.
Eine weitere Fliege landete auf dem Rand der Papiertüte, um in ihrem Innern zu verschwinden.
Der Zug kam näher, und Tessa erkannte, dass die sechs Sargträger Basketballtrikots anhatten. Es mussten Spieler aus der Mannschaft von Nualas Freund sein. Sie hatten starre, schöne Gesichter, den Blick nach vorn gerichtet, die Lippen fest verschlossen. Sie waren die Einzigen, die schwiegen. Klatschend und singend schob sich der Zug an Tessa vorbei.
»Swing low, sweet chariot
Comin’ for to carry me home
Swing low, sweet chariot
Comin’ for to carry me home …«
Unmittelbar hinter dem Sarg gingen die beiden Schwestern der Toten, sie trugen schwarze Etuikleider, in die ihre barocken Körper an keiner Stelle hineinpassten. Die jüngere hatte einen pinkfarbenen Schlapphut auf, die ältere einen zylinderartigen froschgrünen. Zwischen ihnen ging die Mutter im ärmellosen schwarzen Lederanzug mit gelbem Strohhut. Der klein gewachsene Mann mit dem schwarzen Anzug, der dunklen Sonnenbrille und dem rot-grün-gelben Turban, der folgte, musste Nualas Manager sein. Auch er klatschte in die Hände, bewegte sich in
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