Die Brut
den Hüften und sang. Tessa wollte zu der Gruppe hingehen,
mein herzliches Beileid
sagen, drei sinnlose Sätze wechseln mit Menschen, die sie kannte.
Die nächste Fliege kroch in die Papiertüte. Tessa machte einen Schritt zurück.
Kaum einer aus dem Zug schien sie zu beachten, nur ein junger Farbiger, der besonders laut sang, animierte sie mitzumachen. Noch mehr schwarze Jogginghosen folgten, weiße Turnschuhe, schwarze Lederhemden und vor allem – Kopfbedeckungen: Hüte, Baseballkappen, Bandannas, Piratentücher, Turbane in allen Farben von weiß bis lila, von gold bis pink, von orange bis türkis. Nur nicht schwarz. Kein Einziger trug eine schwarze Kopfbedeckung.
Endlich kam das Ende des Zuges in Sicht. Tessa ließ einen kurzen Abstand und folgte.
»I looked over Jordan and what did I see
Comin’ for to carry me home
A band of angels comin’ after me
Comin’ for to carry me home …«
Tessa kannte das Lied nicht, das die Leute sangen, ihre Arme schmerzten, ihr Gesicht hinter dem Schleier war schweißüberströmt, und dennoch begannen ihre Lippen sich zu bewegen. Erst leise, dann immer lauter sang sie den Refrain mit.
»Swing low, sweet chariot
Comin’ for to carry me home
Swing low, sweet chariot
Comin’ for to carry me home …«
Der Zug wurde langsamer, bis er ganz zum Stehen kam. Noch immer wurde gesungen, und auch Tessa konnte nicht aufhören, bis vorn am Grab eine Männerstimme etwas Unverständliches rief. Es gab ein dumpfes Geräusch, Schreie folgten.
Ruhe in Frieden!
Jahrzehntelang hatte Tessa es vergessen, es war das Kommando gewesen, das der Anführer der uniformierten Sargträger damals am Grab ihrer Mutter gebrüllt hatte, und mit dem die anderen Sargträger geantwortet hatten, nachdem sie die Eichenkiste in die Grube gesenkt hatten.
Ruhe in Frieden!
Es hatte geklungen wie die Befehle, die der Sportlehrer in seine Trillerpfeife gebrüllt hatte, wenn sie nicht schnell genug die Seile hinaufgeklettert waren. Tessa konnte nicht glauben, dass bei dieser Beerdigung, die so schön war, einer der Basketballspieler ein solch rohes Kommando gebrüllt hatte. Nein, die Stimme, die eben gerufen hatte, war weicher gewesen, kein deutsches Bellen.
Einen stechenden Moment lang bedauerte sie es, dass Sebastian nicht dabei sein konnte. Trotz seiner Vorurteile, die er gegen Nuala gehabt hatte – die Beerdigung hätte ihm gefallen. Der Gesang. Die Leute, die bei aller Grellheit ehrlich trauerten.
Jemand tippte Tessa sanft auf die Schulter. Ohne es zu merken, hatte sie das Grab erreicht. Ihr Schritt war fest, als sie das Holzbrett an der Längsseite der Grube betrat. Der schwarze Sarg unten im Erdloch war kaum mehr zu sehen. Bedeckt von Blumen, Erdklumpen, CDs und Splittern, die einst zu monströsen Kristalltrophäen gehört haben mochten. Auch zwei Dutzend Stoffpanther lagen bereits im Grab. Doch keiner war so groß wie der, den Tessa jetzt aus der Papiertüte zog. Eine Frau schluchzte laut auf. Es kam aus der Richtung, in der Nualas Familie stand. Eine der Schwestern musste den Panther erkannt haben. Tessa machte noch einen Schritt vorwärts. Irgendwo blitzte eine Kamera. Einen Wimpernschlag lang zuckte sie unter ihrem Schleier zusammen. Es spielte keine Rolle mehr. Nichts von dem, was um sie herum geschah, spielte jetzt noch eine Rolle. Sie streckte die Hände aus, ihre Arme zitterten, das Tier war so schwer, sie konnte es nicht länger halten. Ein neues Schluchzen übertönte das dumpfe Geräusch, mit dem der Stoffpanther im Grab aufschlug. Tessa griff nach der Schippe, die Hälfte der schwarzen Erde verschüttete sie bereits vor dem Grab. Einige Klumpen trafen den Kopf des Panthers, seine trüben Glasaugen starrten geradeaus.
Tessa machte zwei Schritte von der Grabkante zurück. Sie senkte den Kopf, wie von selbst falteten sich ihre Hände über dem Schambein.
»Ruhe in Frieden.«
Zu gern hätte sie etwas anderes gesagt, aber das war alles, was sie im Moment wispern konnte.
»
Ruhe in Frieden
.«
Epilog
12
Die Engel klebten wieder in den Fenstern. Mietskasernen hatten sich mit blinkenden Ketten und Sternen geschmückt, als ginge es darum, in den letzten Tagen des Jahres doch noch einen Preis zu gewinnen. Die ganze Stadt war eine Lichtorgel, auf der ein besinnungsloser Zeremonienmeister Besinnlichkeit spielte.
Tessa und Sebastian hatten in diesem Jahr keinen Baum aufgestellt. Ohne es aussprechen zu müssen, hatten sie sich bereits im November, als die ersten Tannen und Fichten auf den
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