Die Brut
Gott!
… Ich habe es gewusst … die ganze Zeit …«
Tessa verstand nur die Hälfte von dem, was Sebastian schluchzte. Er hatte seine Stirn gegen die ihre gedrückt, seine Hände hielten ihren Hinterkopf umklammert. Nur wenige Zentimeter darunter krallte sich das Kind an sie. Es hatte aufgehört zu wimmern und zu zucken. All seine Kraft floss in seine Arme.
»Mein Gott … Oh mein Gott …«
Die kleinen Stahlfinger in Tessas Nacken lösten sich, durch Sebastians Hände gedämpft, spürte sie dennoch den Schlag. Sie zuckte zusammen. Und dann fühlte sie eine unklare Bewegung, in ihren Haaren wurde gerauft. Da erst begriff sie, dass der Schlag nicht ihr gegolten hatte. Die kleinen Stahlfinger rangen mit Sebastians, wollten keine anderen Finger neben sich dulden.
Sebastian ließ Tessa los und machte einen Schritt zurück. Er schüttelte noch immer den Kopf, Tränen in den Augen. Er versuchte, den Arm des Kindes durch den wattierten Anzug hindurch zu streicheln. Es schlug nach ihm.
Tessa drückte das Kind fester an sich. Es wog so leicht auf ihrem Arm. Es klammerte sich an sie. Es fühlte sich wohl bei ihr. Wohler als bei Sebastian. Noch einmal huschten ihre Augen suchend über die Fassaden. Kein verräterisches Blinken, kein Kameraobjektiv.
Sie schaute in die großen Augen, die sie so offen anstrahlten, schaute Sebastian an und konnte es nicht begreifen. Es musste ein Fehler sein. Da entdeckten sie im Licht der Scheinwerfer die weiße Blesse, die unter der Wollmütze hervorschaute, und auch Sebastian schien sie entdeckt zu haben, mit schnellem Griff riss er dem Kind die Kopfbedeckung weg.
Hinter sich hörten sie ein Räuspern. »Entschuldigung. Ist alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«
Tränen ließen Sebastians Augen schimmern, als er seinen Blick von Victors Stirn ab-, dem Taxifahrer zuwandte. »Sehen Sie? … Sehen Sie doch! … Es ist tatsächlich Victor … Victor ist wieder da!«
Tessa fand den Brief, als sie den Schal des Kindes neu binden wollte. Ein schlichter weißer Umschlag steckte oben in dem Schneeanzug. Sie zögerte, dann fischte sie ihn heraus. Auf dem Kuvert stand ihr Name. Sie schaute sich um. Sebastian war zu dem Taxi gegangen, um Kommissar Kramer anzurufen. Sie hörte ihn laute Worte in das Handy des Fahrers rufen. Der Wind trug ihren Sinn davon.
Behutsam setzte Tessa das Kind in den Buggy zurück. Erst als sie versuchte, den Umschlag aufzureißen, merkte sie, wie klamm ihre Finger waren. Sebastian brüllte noch immer in das Telefon. Es war ein weißes DIN-A4-Blatt, zur Hälfte beschrieben. Wilde, steil geschwungene Handschrift floh über das Papier. Tessa musste es ganz nah an ihr Gesicht halten, um lesen zu können.
Verehrte, gnädige Frau Simon!!!
Der Herr hat mich bestraft für das unendliche Leid, das ich über Sie gebracht habe. Ich bereue so sehr.
Sehr .
Aber der Herr vergibt nur denen, die sich selbst bestrafen. Ich kenne meine Schuld und weiß, was ich tun muss. Damals habe ich gedacht, ich mache alles richtig. Victor sollte doch glücklich werden. Jetzt habe ich die Sünde
erkannt, die ich an Ihnen, Gott und Victor begangen habe. Aber der Herr straft nicht ungerecht. Ich stelle mich seinem Zorn. Ich nehme meine Strafe an!!!!!
Geben Sie Victor all die Liebe und das Glück!
Mit traurigen Grüßen und in ewiger Reue
Ihre
Susanne Lembertz
Beten Sie für mich, dass ich dem Höllenfeuer entkomme!
Eine Windbö riss Tessa den Brief aus der Hand und jagte ihn über den Hof.
Das Kind krabbelte am Boden. Die Familie hatte den Couchtisch, dessen Beine und Kanten Heiligabend neu gepolstert worden waren, zur Seite gerückt, damit es auf dem Teppich zwischen den beiden Sofas spielen konnte. So viele Füße umringten es. Braune Schnürschuhe mit Lochmuster (Herr Waldenfels), dunkelblaue Ballerinas (Frau Waldenfels), weiße Lackstiefel (Tessas Stiefmutter), graue Halbschuhe mit Kreppsohle (Tessas Vater), weinrote Wildlederstiefel (Katharina), schwarz glänzende Stiefeletten (Attila), Bikerboots (Feli) und Filzpantoffeln (Sebastian). Doch das Kind hatte nur Augen für die Stilettos, die ganz links waren. Immer wieder krabbelte es zu ihnen hin, strich über das feine Leder, zupfte an der silbernen Spange, die sich quer über den Spann zog. Es störte sich nicht daran, dass sein Cousin auf das große Holzschaukelpferd geklettert war, das seine Großeltern (väterlicherseits) doch ihm mitgebracht hatten. Auch die anderen Geschenke, die sich unter der in Windeseile geschmückten
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