Die Brut
prüfen.
»Oh, das ist gefährlich«, sagte sie, nachdem sie sich ausgestreckt hatte. »Hoffentlich schlafe ich nicht ein.«
Tessa setzte sich auf ihren Stuhl am Kopfende der Couch, schlug das rechte Bein über das linke Bein und zog ihre Nadelstreifen glatt.
»Keine Angst. Ich halte Sie schon wach.«
Lachen. Stille.
»Frau Behrens. Wie fühlen Sie sich heute?«
»Danke. Sehr gut.«
Tessa wartete. Sie war weder ausgebildete Psychoanalytikerin, noch hatte sie jemals selbst auf einer Couch gelegen. Eine nicht mehr praktizierende Freundin von Attila hatte ihr die Spielregeln des modernen Exorzismus beigebracht.
»Ich hatte einen langen Gremientag«, sagte die Politikerin.
Tessa verzog innerlich den Mund. Schlecht vorbereitet. Jede ihrer Sendungen begann mit:
Wie fühlen Sie sich heute?
Auf diese Frage hätte Gabriele Behrens eine bessere Antwort parat haben müssen. (
Ach, ist tatsächlich immer noch heute?
hatte der Außenminister neulich geantwortet.)
»Haben Sie das Gefühl, dass Sie Ihren Tag hätten anders gestalten sollen?«
»Überhaupt nicht. Gremiensitzungen sind das Herz der Politik.«
Tessa spürte, dass Gabriele Behrens sich aufrichten und den Blickkontakt zum Publikum suchen wollte. Vor über einem Jahr hatte Attila das Format erfunden.
Du musst die Politiker verunsichern. Zieh ihnen den Boden weg. Kein Mensch will mehr hören, was die reden, wenn man sie reden lässt
, hatte er bei dem Abendessen gesagt, bei dem
Auf der Couch
geboren worden war.
»Das ist den meisten Menschen ja gar nicht klar«, redete Gabriele Behrens weiter. »Dass die eigentliche Politik in den Gremien und in den Ausschüssen gemacht wird. Die Menschen sehen im Fernsehen immer nur die Bilder von Bundestagssitzungen und kritisieren dann, dass die Reihen dort so leer sind. Aber das müssen sie auch sein, weil die eigentliche Arbeit in den Gremien gemacht wird.«
Tessa hatte sich nur einmal zum Scherz auf die Studiocouch gelegt. Man sah Scheinwerfer und Lastenzüge und Beleuchterbrücken, darüber die hohe Decke, die sich im Schwarz verlor. Es war kein wirklich beruhigender Anblick.
»Sie betonen so sehr die Wichtigkeit der Gremienarbeit. Haben Sie Angst, dass die Leute, jetzt wo Sie Kanzlerkandidatin sind, den Verdacht haben, Sie würden die Basisarbeit vernachlässigen?«
»Ganz und gar nicht. Ich bin und war schon immer jemand, der gesagt hat: Ein Baum kann nur von den Wurzeln her wachsen.«
»Das ist ein schöner Satz. Wo würden Sie Ihre ganz persönlichen Wurzeln sehen, Frau Behrens?«
Die Politikerin bewegte den Kopf ein wenig nach links. Tessa wusste, dass sie sie von ihrer Position aus nicht sehen konnte. Die Kamera, die an einem Kran über der Couch befestigt war, zeichnete jede Bewegung auf.
»Ich komme vom Land. Ich bekenne mich dazu, und auch heute ist es für mich immer noch wichtig, ein paar Wochen im Jahr auf dem Land zu verbringen. Vergangenen Sommer haben wir einen kleinen Bauernhof gekauft. Ich fürchte, ich werde jetzt nicht mehr viel Zeit dafür haben, aber trotzdem brauche ich so einen Ort, der mich mit meiner Herkunft verbindet.«
Tessa entdeckte am Scheitel der Politikerin, die ihre braunen Haare schulterlang trug, einiges Grau. Sie schätzte, dass Gabriele Behrens alle sechs Wochen zum Färben ging. Alle sechs Wochen war zu wenig. Sie selbst wusste, wie lästig es war, alle vier Wochen eine Stunde unter Folien und Wärmestrahlern zu sitzen. Aber alle sechs Wochen war zu wenig.
»… erst als ich meinen Mann kennen gelernt habe. Das war ganz wichtig für mich.«
Tessa zuckte zusammen, wie ein Autofahrer, der sich beim Sekundenschlaf ertappt. »Sie sprechen oft von Ihrem Mann«, sagte sie schnell. Sie war sicher, dass niemand etwas gemerkt hatte. »Können Sie sagen, was Ihr Mann für Ihr Leben bedeutet?«
»Alles. Er ist derjenige, der mir die Kraft gibt, die ich in meinem Beruf brauche.«
»Ihr Mann ist Professor für Geschichte. Als Sie zur Kanzlerkandidatin nominiert worden sind, hat er spontan angeboten, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, um ganz für Sie da zu sein. Fühlen Sie sich deshalb schuldig?«
»Wieso sollte ich mich schuldig fühlen?«
»Haben Sie nicht das Gefühl, dass Ihr Mann Ihnen mehr gibt, als Sie bereit wären, ihm zu geben?«
Tessa sah, wie Gabriele Behrens versuchte, sich auf der Couch ein wenig mehr aufzurichten. Gespannt wartete sie auf die Alarmleuchte, die immer dann losging, wenn ein Gast sich während des Gesprächs aufsetzte.
»Mein Mann und ich sind nun
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