Die Bücherdiebin
gut gekleidet. Der Mann hatte weiße Haare und einen Backenbart, so dicht wie eine Hecke. Auf dem Tisch standen hohe Gläser, die mit einer sprudelnden Flüssigkeit gefüllt waren.
»Sodenn«, sagte der Mann, »zum Wohl!«
Er nahm sein Glas und bedeutete den anderen, es ihm nachzutun.
Der Nachmittag war warm gewesen. Liesel zuckte angesichts der Kälte des Glases leicht zusammen. Sie schaute Papa an, der ermutigend nickte, grinste und sagte: »Prost, Mädel!« Ihre Gläser stießen klingend aneinander, und in dem Moment, in dem Liesel das Glas an den Mund hob, wurde sie von dem spritzigen, widerlich süßlichen Geschmack des Champagners gebissen. Reflexartig spuckte sie das Zeug direkt auf den Kittel ihres Papas, wo die Flüssigkeit schäumte und tropfte. Gelächter brauste auf, und Hans forderte sie auf, es noch einmal zu versuchen. Diesmal konnte sie schlucken und den Geschmack einer ruhmreich gebrochenen Regel genießen. Es fühlte sich großartig an. Die Bläschen auf ihrer Zunge, die noch in ihrem Bauch kitzelten. Sogar als sie sich auf den Weg machten, konnte sie noch immer das Kribbeln in ihrem Innern spüren.
Papa, der den Karren zog, erzählte ihr, dass die Leute behauptet hätten, kein Geld zu haben. »Und da hast du Champagner verlangt?«
»Warum nicht?« Er schaute sie über den Karren hinweg an, und seine Augen waren noch nie so silbrig gewesen. »Ich wollte nicht, dass du denkst, Champagnerflaschen sind nur dazu da, dass man Farbklumpen damit platt rollt.« Er warnte sie: »Erzähl bloß Mama nichts davon, hörst du?«
»Darf ich es Max erzählen?« »Sicher, Max darfst du es sagen.«
Als sie im Keller saß und über ihr Leben schrieb, schwor sich Liesel, dass sie nie wieder Champagner trinken würde, denn er würde nie wieder so gut schmecken wie an jenem Nachmittag.
Mit dem Akkordeon war es genauso.
Oft wollte sie fragen, ob Papa ihr das Spielen beibringen könne, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Vielleicht wusste sie intuitiv, dass sie nie in der Lage sein würde, so zu spielen wie Hans Hubermann. Nicht einmal der weitbeste Akkordeonspieler konnte sich mit ihm messen. Auf keinem anderen Gesicht lag jener Ausdruck von gelassener Konzentration. Kein anderer Musiker hatte eine Zigarette zwischen den Lippen, die er gegen den Anstrich einer Jalousie eingetauscht hatte. Und keiner von ihnen konnte eine falsche Note im Nachhinein mit dem Dreiklang eines Lachens quittieren. Nicht so wie er.
Manchmal wachte sie in diesem Keller auf und spürte den Klang des Akkordeons in den Ohren. Sie fühlte das süße Brennen des Champagners auf der Zunge.
Manchmal lehnte sie an der Wand und sehnte sich nach dem warmen Finger aus Farbe, der noch einmal ihren Nasenflügel hinabrinnen möge, oder nach dem Anblick von Papas Sandpapierhänden.
Wenn sie doch noch ein Mal so ahnungslos sein und, ohne es zu wissen, solche Liebe verspüren könnte, wenn sie noch ein Mal diese Liebe mit Lachen und Brot mit einem Hauch Marmelade verwechseln könnte.
Es war die schönste Zeit ihres Lebens.
Lasst euch nicht täuschen. Es war ein Bombenteppich.
Kühn und strahlend zog sich die Trilogie des Glücks durch den Sommer und bis in den Herbst hinein. Und dann nahm sie ein jähes Ende, denn die strahlende Helligkeit hatte dem Leid den Weg gewiesen.
Harte Zeiten näherten sich.
Wie bei einer Parade.
Mit großen Schritten.
DUDEN BEDEUTU NGSWÖRTERBUCH - ERSTER EINTRAG
Glück: Zustand innerer Harmonie und Zufriedenheit. Synonyme: Freude, Seligkeit, Wonne.
die trilogie
Liesel arbeitete, und Rudi rannte.
Er drehte Runden auf dem Sportplatz, rannte um die Häuserblocks und lieferte sich mit fast allen ein Wettrennen, vom Fuße der Himmelstraße bis zu Frau Lindners Eckladen, wobei er seinen Gegnern jeweils einen gehörigen Vorsprung gab.
Wenn Liesel Mama in der Küche half - was zurzeit selten vorkam -, schaute Rosa hin und wieder aus dem Fenster und sagte: »Was heckt dieser kleine Saukerl wohl diesmal wieder aus? Was soll diese Rennerei?«
Liesel kam zum Fenster. »Wenigstens hat er sich nicht wieder schwarz angemalt.«
»Na, das ist doch schon mal was, nicht wahr?«
RUDIS GRÜNDE
Mitte August fand ein Sportfest der Hitlerjugend statt, und Rudi beabsichtigte, vier Wettkämpfe zu gewinnen: die 1500, 400, 200 und natürlich die 100 Meter. Er mochte seine neuen Anführer bei der Hitlerjugend und wollte ihnen gefallen, und er wollte seinem alten Freund Franz Deutscher eins auswischen.
»Vier Goldmedaillen«, sagte er
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