Die Bücherdiebin
wieder die Große Straße hinauf bis zur Hausnummer 8. Sie setzte sich auf die vertraute Treppenstufe. Das Buch hatte Rudi, aber sie hielt den Brief und rieb mit den Fingern über das gefaltete Papier. Unter ihr wurden die Stufen immer härter. Vier Mal machte sie Anstalten, an das einschüchternde Fleisch der Tür zu klopfen, aber sie brachte es nicht fertig. Alles, wozu sie den Mut hatte, war, ihre Fingerknöchel auf die Wärme des Holzes zu legen.
Wieder fand ihr Bruder den Weg zu ihr.
Er stand am Fuß der Treppe. Sein Knie heilte gut. Er sagte: »Na, mach schon, Liesel. Klopf an.«
Sie ergriff ein zweites Mal die Flucht. Schon bald sah sie in der Ferne Rudis Gestalt auf der Brücke. Der Wind brauste durch sein Haar. Seine Füße schwammen auf den Pedalen.
Liesel Meminger war eine Verbrecherin.
Aber nicht, weil sie durch ein offenes Fenster geklettert und eine Handvoll Bücher gestohlen hatte.
Ich hätte klopfen sollen, dachte sie, und obwohl sie eine gute Portion Schuld empfand, verspürte sie auch das jugendliche Kitzeln von Gelächter in sich aufsteigen.
Sie radelte dahin und redete mit sich selbst.
Du verdienst es nicht, glücklich zu sein, Liesel. Wirklich nicht.
Kann man Glück stehlen? Oder ist das wieder so ein sinnhafter, sündhafter menschlicher Trick?
Liesel schüttelte die Gedanken ab. Sie überquerte die Brücke, forderte Rudi auf, sich zu beeilen und das Buch nicht liegen zu lassen.
Auf rostigen Rädern fuhren sie nach Hause.
Sie fuhren eine Wegstrecke, fuhren vom Sommer in den Herbst, von einem ruhigen Abend in die lärmenden Bombennächte über München.
der klang der sirenen
Von dem bisschen, das Hans im Sommer verdient hatte, kaufte er ein gebrauchtes Radio. »So erfahren wir«, sagte er, »wann die Luftangriffe kommen, noch bevor die Sirenen losgehen. Sie bringen im Radio einen Kuckucksruf und verkünden dann die Gebiete, die gefährdet sind.«
Er stellte das Radio auf den Küchentisch und schaltete es ein. Sie versuchten es auch im Keller, wegen Max, aber dort hatten sie keinen Empfang, nur statisches Rauschen und verstümmelte Stimmen.
Im September schliefen sie und hörten es nicht.
Entweder funktionierte das Radio nicht mehr richtig, oder die Ankündigung wurde von dem kreischenden Klang der Sirenen verschluckt.
Eine Hand schob sich sanft auf Liesels Schulter und weckte sie. Papas Stimme folgte, ängstlich.
»Liesel, wach auf. Wir müssen gehen.«
Liesel, aus dem Schlaf gerissen, war zuerst orientierungslos und konnte kaum die Konturen von Papas Gesicht erkennen. Das einzig Erkennbare war seine Stimme.
Im Flur blieben sie stehen. »Wartet«, sagte Rosa.
Sie eilten durch die Dunkelheit in den Keller. Die Lampe war angezündet.
Max schob sich hinter den Farbeimern und Lumpen hervor. Sein Gesicht war müde, und er hakte die Daumen nervös in den Hosenbund. »Zeit zu gehen, was?«
Hans trat zu ihm. »Ja, Zeit zu gehen.« Er schüttelte Max die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Bis nachher, in Ordnung?«
»Natürlich.«
Rosa umarmte ihn, genauso wie Liesel.
»Auf Wiedersehen.«
Wochen vorher hatten sie darüber gesprochen, ob sie alle beisammen im eigenen Keller bleiben oder ob die Hubermanns und Liesel Zuflucht bei einer Familie namens Fiedler suchen sollten. Max traf die Entscheidung. »Sie sagen doch, dass der Keller als Luftschutzraum nicht geeignet ist. Ich habe euch schon genug in Gefahr gebracht.«
Hans hatte genickt. »Es ist eine Schande, dass wir Sie nicht mitnehmen können. Eine himmelschreiende Schande.«
»So ist es nun einmal.«
Draußen heulten die Sirenen die Häuser an, und die Leute kamen herausgerannt, zögerten und schreckten zurück, weil sie ihr Zuhause nicht verlassen wollten. Die Nacht schaute zu. Einige Leute erwiderten den Blick und versuchten, die blechernen Flugzeuge ausfindig zu machen, die über den Himmel jagten.
Durch die Himmelstraße zog sich eine Prozession durcheinanderlaufenden Menschen, die sich mit ihren Kostbarkeiten abplagten. Manchmal war es ein Baby. Manchmal ein Stapel Fotoalben oder eine Holzkiste. Liesel hatte ihre Bücher bei sich, zwischen ihrem Arm und ihren
Rippen. Frau Holzinger schleppte mit hervorquellenden Augen und kleinen Schritten einen Koffer über den Bürgersteig.
Papa, der alles vergessen hatte - sogar sein Akkordeon -, lief zu ihr und rettete den Koffer aus ihren Händen. »Jesus, Maria und Josef, was haben Sie denn da drin?«, fragte er. »Einen Amboss?«
Frau Holzinger lief neben ihm her.
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