Die Bücherdiebin
»Nur das Nötigste.«
Die Fiedlers wohnten sechs Häuser weiter. Sie waren zu viert, alle mit weizenfarbenem Haar und guten deutschen Augen. Wichtiger noch: Sie verfügten über einen geräumigen, tief ausgehobenen Keller.
Zweiundzwanzig Personen drängten sich hinein, einschließlich der Familie Steiner, Frau Holzinger, Pfiffikus, einem jungen Mann und einer Familie namens Jenson. Im Interesse der Friedfertigkeit hielt man Rosa Hubermann und Frau Holzinger getrennt, obwohl es Situationen gab, die über kleinliche Streitereien erhaben waren.
Eine Glühbirne baumelte von der Decke herab. Der Raum war feucht und kalt. Zerklüftete Wände neigten sich vor und stachen den Menschen, die herumstanden und sich unterhielten, in den Rücken. Der gedämpfte Klang der Sirenen drang von irgendwo herein. Obwohl dieser
Umstand an der Qualität des Schutzraums zweifeln ließ, waren sie froh, dass sie doch wenigstens die drei Sirenentöne hören würden, die das Ende des Luftangriffs und damit ihre Sicherheit verkünden würden. Sie brauchten keinen Luftschutzwart.
Es dauerte nicht lange, da entdeckte Rudi Liesel und stellte sich neben sie. Sein Haar deutete zur Decke. »Ist das nicht toll?«
Sie konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen. »Es ist ganz großartig.«
»Ach, komm schon, Liesel, sei doch nicht so. Was kann denn schon passieren, außer dass wir platt gewalzt oder gebraten werden oder was Bomben sonst noch so anstellen?«
Liesel schaute sich um und spähte in die Gesichter. Sie erstellte eine Liste von denjenigen, die sich am meisten fürchteten.
DIE ERSTEN AUF DER LISTE
1 . Frau Holzinger
2. Herr Fiedler
3. der junge Mann
4. Rosa Hubermann
Frau Holzingers Augen waren aufgerissen, die Lider wie angeklebt. Ihr drahtiger Körper neigte sich nach vorn, und ihr Mund war ein offener Kreis. Herr Fiedler fragte jedermann, manchmal mehrmals, wie er oder sie sich fühle. Der junge Mann, Rolf Schultz, hockte allein in einer Ecke, führte Selbstgespräche und fluchte leise in die Luft hinein. Seine Hände waren in seinen Taschen festgebacken. Rosa wiegte sich vor und zurück, ganz leicht nur. »Liesel«, flüsterte sie, »komm her.« Sie umarmte das Mädchen von hinten, drückte sie fest an sich. Sie sang ein Lied, aber so leise, dass Liesel es nicht verstand. Die Noten wurden in ihrem Atem geboren und starben auf ihren Lippen. Neben ihnen blieb Papa still und bewegungslos. Einmal legte er seine warme Hand auf Liesels kühlen Schädel. Du wirst leben, sagte die Hand, und sie hatte recht.
Zu ihrer Linken standen Alex und Barbara Steiner mit den beiden jüngsten Kindern, Emma und Bettina. Die zwei Mädchen hingen an den Beinen der Mutter. Der Älteste, Kurt, starrte in perfekter Hitlerpose geradeaus und hielt Karin an der Hand, die winzig klein war, sogar für eine Siebenjährige. Die zehnjährige Anna-Marie spielte mit der unregelmäßigen Oberfläche der Wand.
Auf der anderen Seite der Steiners standen Pfiffikus und die Jensons. Pfiffikus beherrschte sich und pfiff nicht.
Der bärtige Herr Jenson hielt seine Frau fest umschlungen, und ihre zwei Kinder durchbrachen ab und zu das Schweigen. Manchmal ärgerten sie einander, hielten aber inne, bevor es zu einem Streit kommen konnte.
Nach etwa zehn Minuten war das Allesbeherrschende in diesem Keller die Bewegungslosigkeit. Die Körper waren wie zusammengeschweißt, und nur die Füße scharrten hin und wieder oder wechselten sich mit dem darüberliegenden Gewicht ab. Starre hatte sich der Gesichter bemächtigt. Sie betrachteten einander und warteten.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - DRITTER EINTRAG
Angst, beklemmendes, banges Gefühl, bedroht zu sein. Synonyme: Ängstlichkeit. Beklemmung, Furcht, Panik.
Es gab Geschichten über andere Luftschutzräume, in denen »Deutschland, Deutschland über alles« gesungen wurde oder wo sich Leute inmitten ihres eigenen, abgestandenen Atems stritten. Nichts dergleichen geschah im Keller der Fiedlers. Hier gab es nur Angst und Sorge und das tote Lied auf Rosa Hubermanns Pappkartonlippen.
Kurz bevor die Sirenen Entwarnung gaben, lockte Alex Steiner - der Mann mit dem unbeweglichen, hölzernen Gesicht - die Kinder von den Beinen seiner Frau weg. Er streckte die Hand aus und nahm die freie Hand seines Sohnes. Kurt, immer noch stoisch und starrend, nahm sie und drückte mit der anderen Hand die Hand seiner Schwester ganz leicht. Bald darauf hielten sich alle an den Händen, und die Gruppe von Deutschen stand in einem klumpigen Kreis.
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