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Die Bücherdiebin

Die Bücherdiebin

Titel: Die Bücherdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak
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stellte sich heraus, dass der erste Luftangriff gar kein Luftangriff war. Hätten die Leute darauf gewartet, Flugzeuge am Himmel zu sehen, hätten sie die ganze Nacht lang warten können. Das erklärte auch die Tatsache, dass kein Kuckucksruf aus dem Radio ertönt war. Das Molchinger Abendblatt berichtete, dass ein einzelner Flak-Offizier etwas übereifrig gewesen sei. Er hätte schwören können, dass er das Rattern von Flugzeugen wahrgenommen und sie am Horizont auch gesehen hätte. Er hatte den Alarm ausgelöst.
    »Vielleicht hat er es absichtlich getan«, überlegte Hans Hubermann. »Würdet ihr gerne an einer Flak sitzen und auf Flugzeuge schießen, die mit Bomben beladen sind?«
    Max, der den Artikel im Keller las, erfuhr, dass der Mann mit der blühenden Fantasie seines Postens enthoben worden war. Wahrscheinlich wurde er irgendwo anders hin versetzt.
    »Viel Glück für ihn«, sagte Max. Er schien die Zusammenhänge zu begreifen. Dann widmete er sich dem Kreuzworträtsel.
    Der nächste Alarm war echt.
    In der Nacht des 19. September rief der Kuckuck aus dem Radio, gefolgt von einer tiefen, sachlichen Stimme, die Molching als ein mögliches Ziel nannte.
    Wieder zog sich eine Schlange aus Menschen durch die Himmelstraße, und wieder ließ Papa sein Akkordeon zurück. Rosa erinnerte ihn daran, aber er schüttelte den Kopf. »Das letzte Mal hatte ich es auch nicht dabei«, erklärte er, »und wir haben überlebt.« Der Krieg ließ eindeutig die Grenzen zwischen Logik und Aberglauben verschwimmen.
    Unheilschwangere Luft folgte ihnen in den Keller der Fiedlers. »Ich glaube, heute Abend ist es kein falscher Alarm«, sagte Frau Fiedler, und die Kinder merkten schnell, dass ihre Eltern diesmal noch mehr Angst hatten. Sie reagierten auf die einzige Art, die sie kannten. Das Jüngste fing an zu heulen und zu schreien, während der Raum zu zittern begann.
    Selbst hier unten konnten sie gedämpft die Melodie der Bomben hören. Der Luftdruck schob sich bodenwärts, wie eine Zimmerdecke, als wollte er die Erde zerquetschen. Aus Molchings leeren Straßen wurde ein Stück herausgebissen.
    Rosa klammerte sich an Liesels Hand fest.
    Schreiende Kinder, die um sich traten und schlugen.
    Rudi stand aufrecht da, spielte den Gleichmütigen, spannte sich gegen die Anspannung an. Arme und Ellbogen kämpften um Platz. Ein paar von den Erwachsenen versuchten, die Kinder zu beruhigen. Etliche andere konnten nicht einmal sich selbst zur Ruhe zwingen.
    »Bringt die Kinder zum Schweigen!«, rief Frau Holzinger, aber ihr Ruf war nur eine weitere unglückselige Stimme in dem warmen Durcheinander des Luftschutzraums. Schmutzige Tränen lösten sich aus den Augen der Kinder, und der Geruch von nächtlichem Atem, Achselschweiß und ungewaschenen Kleidern wurde umgerührt und erhitzt in dem Raum, der jetzt mehr einem Kessel glich, in dem menschliche Wesen schwammen.
    Obwohl sie nebeneinander standen, musste Liesel schreien, um sich bemerkbar zu machen: »Mama?« Noch einmal. »Mama, du zerdrückst mir die Hand!«
    »Was?«
    »Meine Hand!«
    Rosa ließ sie los, und um sich zu trösten und dem Tumult um si ch herum zu entgehen, öffnete Liesel eines ihrer Bücher und fing an zu lesen. Das oberste Buch auf dem Stapel war Der Pfeifer, und sie las laut, um sich besser konzentrieren zu können. Der erste Absatz lag taub in ihren Ohren.
    »Was hast du gesagt?«, brüllte Mama, aber Liesel achtete nicht auf sie. Sie hielt ihren Blick auf die erste Seite gerichtet.
    Als sie umblätterte, bemerkte Rudi, was sie tat. Er hörte zu, während sie las, und er tippte seine Geschwister an und sagte, sie sollten ebenfalls zuhören. Hans Hubermann kam näher und rief die anderen, und schon bald sickerte Stille durch den überfüllten Keller. Auf Seite drei schwiegen alle, außer Liesel.
    Sie wagte nicht aufzuschauen, aber sie fühlte die verängstigten Augen, die an ihr hingen, während sie die Worte ein- und ausatmete. Eine Stimme spielte in ihrem Innern die Noten. Dies so sagte die Stimme, ist dein Akkordeon.
    Das Rascheln der Seite, die umgeblättert wurde, schnitt sie in Stücke.
    Liesel las weiter.
    Etwa zwanzig Minuten lang verschenkte sie die Geschichte. Die kleinen Kinder wurden ruhig beim Klang ihrer Stimme, und alle anderen sahen Bilder vom Pfeifer vor sich, der vom Tatort floh. Liesel nicht. Die Bücherdiebin sah nur den Mechanismus der Worte - ihre Körper, die auf dem Papier lagen, niedergeschlagen, damit sie darübergehen konnte. Irgendwo, in den

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