Die Bücherdiebin
sie in eines dieser Löcher hinein, direkt in die bösartigen Fänge des Bürgermeisters. Wenn diese Gedanken etwas Gutes hatten, dann die Tatsache, dass sie Liesel ablenkten und sie das Fenster schneller als erwartet erreichte.
Alles war wie damals, als sie den Pfeifer gestohlen hatte.
Ihre Nerven leckten ihre Handflächen feucht.
Kleine Ströme aus Schweiß kräuselten sich in ihren Achseln.
Als sie den Kopf hob, konnte sie den Titel lesen: Duden Bedeutungswörterbuch. Kurz wandte sie sich zu Rudi um und formte lautlos die Worte: Es ist ein Wörterbuch. Er zuckte mit den Schultern und breitete kurz die Arme aus.
Sie ging überlegt vor, hob das Fenster an und fragte sich gleichzeitig, wie die ganze Szene vom Innern des Hauses betrachtet aussehen würde. Sie stellte sich den Anblick ihrer diebischen Hand vor, die das Fenster hochschob, bis das Buch hinausfiel. Es schien sich nur zögernd zu ergeben, wie ein gefällter Baum.
Es fiel.
Kaum ein Geräusch war zu hören.
Das Buch neigte sich ihr entgegen, und sie nahm es mit ihrer freien Hand. Sie machte sogar das Fenster wieder zu, vorsichtig und ordentlich. Dann drehte sie sich um und ging durch die Schlaglöcher aus Wolken wieder zurück.
»Saubere Arbeit«, sagte Rudi und reichte ihr den Lenker ihres Fahrrads.
»Danke.«
Sie fuhren auf die Straßenecke zu, wo sie die Bedeutsamkeit des Tages erwartete. Liesel wusste es. Da war wieder dieses Gefühl - das Gefühl, beobachtet zu werden. Eine Stimme trat in ihrem Herzen in die Pedale. Zwei Mal rundherum.
Schau zum Fenster. Schau zum Fenster.
Sie konnte nicht anders.
Wie ein Jucken, das nach einem Fingernagel verlangt, verspürte sie das unbezähmbare Bedürfnis anzuhalten.
Sie stellte die Füße auf den Boden und drehte sich um, schaute zurück zum Haus des Bürgermeisters, zum Fenster der Bibliothek, und sie sah es. Sie hätte wissen müssen, dass die Möglichkeit bestand, aber dennoch konnte sie den Schreck nicht verbergen, als sie die Frau des Bürgermeisters erblickte, die hinter der Glasscheibe stand. Sie war durchsichtig, aber sie war da. Ihre fusseligen Haare sahen so aus wie immer, und sie gab ihre verwundeten Augen, ihren verletzten Mund und ihr Gesicht Liesels Blicken preis.
Sehr langsam hob sie die Hand, grüßte die Bücherdiebin unter ihr auf der Straße. Ein bewegungsloses Winken.
In ihrem Schreck sagte Liesel nichts, weder zu Rudi noch zu sich selbst. Sie reckte nur die Schultern und hob ebenfalls die Hand, um den Gruß der Frau zu erwidern.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - ZWEITER EINTRAG
verzeihen: Ein Unrecht, eine Kränkung o. Ä. nicht zum Anlass für eine heftige Reaktion, eine Vergeltungsmaßnahme nehmen, sondern mit Nachsicht und Großzügigkeit reagieren. Synonyme: entschuldigen, nachsehen, vergeben.
Auf dem Heimweg hielten sie auf der Brücke an und begutachteten das schwere schwarze Buch. Rudi blätterte durch die Seiten und entdeckte einen Brief. Er zog ihn heraus und schaute langsam zur Bücherdiebin auf.
»Da steht dein Name drauf.«
Der Fluss zog dahin.
Liesel nahm das Stück Papier.
DER BRIEF
Liebe Liesel,
ich weiß, dass du mich für jämmerlich und verachtenswert hältst (schlag die Wörter nach, wenn du sie nicht kennst), aber ich bin nicht so dumm, dass ich deine Fußspuren in der Bibliothek übersehen würde.
Als ich das erste Mal bemerkte, dass ein Buch fehlt, dachte ich, dass ich es einfach verlegt hätte, aber dann sah ich die Konturen von Fußabdrücken auf dem Boden, dort, wo das Licht hinfällt.
Ich musste lächeln.
Ich war froh, dass du dir genommen hast, was ohnehin dir gehört. Dann beging ich einen Fehler. Ich dachte, es wäre zu Ende.
Als du zurückkamst, hätte ich wütend sein sollen, aber ich war es nicht. Das letzte Mal konnte ich dich hören, aber ich beschloss, dich in Ruhe zu lassen. Du nimmst ja jedes Mal nur ein Buch, und es wird tausend Besuche dauern, bis sie alle weg sind. Ich hoffe nur, dass du eines Tages an die Haustür klopfen und das Haus auf anständige Art und Weise betreten wirst.
Ich möchte dir noch einmal sagen, wie leid es mir tut, dass wir deine Pflegemutter nicht länger beschäftigen können.
Abschließend hoffe ich, dass dir das Wörterbuch von Nutzen sein wird, wenn du deine gestohlenen Bücher liest.
Mit freundlichen Grüßen Ilsa Hermann
»Wir sollten jetzt heimfahren«, schlug Rudi vor, aber Liesel machte keine Anstalten aufzubrechen.
»Kannst du zehn Minuten auf mich warten?«
»Na klar.«
Liesel strampelte
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