Die Bücherdiebin
drei nahm sie mit einem einzigen Satz.
»Gehen wir, Saumensch!« Sie gestattete sich sogar ein Lachen. Die Paranoia einer Elfjährigen war mächtig. Die Erleichterung einer Elfjährigen war übermächtig.
EIN DÄMPFER FÜR DIE ERLEICHTERUNG
Sie war mitnichten davongekommen. Die Frau des Bürgermeisters hatte alles genau mit angesehen. Sie wartete nur auf den richtigen Zeitpunkt.
Ein paar Wochen vergingen.
Fußball auf der Himmelstraße.
Das Schulterzucken zwischen zwei und drei Uhr jeden Morgen, nach dem Albtraum, oder am Nachmittag im Keller.
Ein weiterer Gang zum Haus des Bürgermeisters - mit glücklichem Ausgang.
Alles war herrlich.
Bis.
Bei Liesels nächstem Besuch im Haus des Bürgermeisters, diesmal ohne Rudi, der richtige Zeitpunkt gekommen war. Es war ein Abholtag.
Die Frau des Bürgermeisters öffnete die Tür, und in ihrer Hand hielt sie nicht wie sonst den Wäschesack. Stattdessen trat sie zur Seite und bedeutete dem Mädchen mit ihrer kalkweißen Hand einzutreten.
»Ich will nur die Wäsche abholen.« Liesels Blut war ihr in den Adern getrocknet. Es zerbröselte. Sie wäre beinahe auf der Treppe in Stücke gebrochen.
Da sagte die Frau ihr erstes Wort zu Liesel. Sie streckte die Hand mit den kalten Fingern aus und sagte: »Warte.« Als sie sicher war, dass das Mädchen sich wieder gefasst hatte, drehte sie sich um und ging eilig ins Haus.
»Gott sei Dank«, atmete Liesel aus. »Sie holt sie.« »Sie« war in diesem Fall die Wäsche.
Aber als die Frau wiederkam, hatte sie nichts dergleichen bei sich.
Als sie wiederkam und sich mit einer unglaublich zerbrechlichen Standhaftigkeit vor Liesel aufbaute, hielt sie einen Turm aus Büchern gegen ihren Leib gepresst, von ihrem Bauchnabel aufwärts bis zu ihren Brüsten. Sie wirkte in dem monströsen Türrahmen so verletzlich. Lange, helle Wimpern und nur der leiseste Hauch von Lebendigkeit in ihrem Gesicht. Eine Einladung.
Komm, schau sie dir an, sagte dieses Gesicht.
Sie wird mich foltern, vermutete Liesel. Sie wird mich ins Haus locken, den Kamin anzünden und mich mitsamt den Büchern ins Feuer werfen. Oder sie schließt mich bei Wasser und Brot in den Keller ein.
Aus irgendeinem Grund jedoch - wahrscheinlich erlag sie der Verlockung der Bücher - ging sie hinein. Das Quietschen ihrer Schuhe auf den hölzernen Dielen ließ sie zusammenfahren, und als sie einen weiteren wunden Punkt traf, wo das Holz vernehmlich aufstöhnte, wäre sie beinahe stehen geblieben. Aber die Frau des Bürgermeisters ließ sich nicht aufhalten. Sie schaute nur kurz hinter sich und ging dann weiter, zu einer kastanienbraunen Tür. Jetzt stand in ihrem Gesicht eine Frage.
Bist du bereit?
Liesel reckte ihren Hals ein wenig, als ob sie über die Tür, die ihr im Wege stand, hinwegsehen könnte. Ein deutliches Zeichen, dass sie geöffnet werden sollte.
»Jesus, Maria...«
Sie sprach es aus, und die Worte fanden Eingang in einen Raum, der voller kalter Luft und Bücher war. Überall Bücher! Die Wände waren mit überfüllten, doch ordentlichen Regalen bestückt. Den Wandanstrich konnte man fast nirgends sehen. Die Schrift auf den Buchrücken war überall unterschiedlich, geschwungen und gerade, groß und klein. Die Buchrücken selbst waren nicht nur schwarz, rot und grau; sie wiesen jede vorstellbare Farbe auf. Der Anblick gehörte zu den schönsten, die Liesel Meminger je gesehen hatte.
Erfüllt von diesem Wunder, lächelte sie.
Dass ein solcher Raum existierte!
Sie versuchte, sich das Lächeln mit ihrem Unterarm aus dem Gesicht zu wischen, merkte abei sofort, dass dies ein sinnloses Unterfangen war. Sie fühlte die Augen der Frau über ihren Körper wandern, und als Liesel sie anschaute, ruhte ihr Blick auf dem Gesicht des Mädchens.
Es herrschte ein Maß an Stille, von dem sie nie gedacht hätte, dass es möglich war. Die Stille dehnte sich aus, wie ein Gummiband, das nur zu gerne gerissen wäre. Das Mädchen durchbrach sie.
»Darf ich?«
Die beiden Worte standen auf einem unendlich weiten, mit Holz belegten Feld. Die Bücher waren kilometerweit weg.
Die Frau nickte.
Ja, du darfst.
Der Raum schrumpfte, bis die Bücherdiebin die Regale mit ein paar kleinen Schritten erreichen konnte. Sie fuhr mit dem Handrücken das erste Regal entlang und lauschte dem rhythmischen Ticken, das ihre Fingernägel auf den abgerundeten Buchrücken verursachten. Es klang wie ein Instrument, das Geräusch rennender Füße. Sie nahm beide Hände. Sie veranstaltete ein Wettrennen.
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