Die Bücherdiebin
auf und las auf dem Boden der Bibliothek im Pfeifer. Die Gattin des Bürgermeisters verhielt sich nicht ungewöhnlich - oder besser gesagt: nicht ungewöhnlicher als sonst -, bis es Zeit für Liesel war zu gehen.
Als sie diesmal Liesel das Buch anbot, bestand sie darauf, dass das Mädchen es nahm. »Bitte.« Sie flehte fast. Das Buch war von einer festen, bestimmten Faust umklammert. »Nimm es. Bitte. Nimm es.«
Liesel, merkwürdig berührt von dem seltsamen Verhalten der Frau, ertrug es nicht länger, sie zu enttäuschen. Das grau gebundene Buch mit den vergilbenden Seiten fand seinen Weg in ihre Hand, und sie machte ein paar Schritte den Flur hinab. Als sie nach der Wäsche fragen wollte, schenkte ihr die Frau des Bürgermeisters einen abschließenden Blick voll morgenbemäntelter Trauer. Sie griff in eine Schublade und zog einen Umschlag heraus. Ihre Stimme, klebrig aus Mangel an Übung, hustete die Worte hervor: »Es tut mir leid. Das ist für deine Mama.«
Liesel hörte auf zu atmen.
Sie war sich plötzlich bewusst, wie leer sich ihre Füße in ihren Schuhen fühlten. Irgendetwas verhöhnte ihre Kehle. Sie zitterte. Dann streckte sie die Hand aus und nahm den Brief. Im selben Moment hörte sie die Uhr in der Bibliothek. Ihr wurde klar, dass Uhren gar nicht tickten, nein, nicht einmal entfernt ähnelte ihr Klang einem Tick-Tack, Tick-Tack. Es war vielmehr der Schlag eines Hammers, der gleichmäßig auf die Erde einhieb. Es war der Klang des Grabes. Wenn doch nur meines schon ausgehoben wäre, dachte sie - denn in diesem Augenblick wünschte sich Liesel Meminger zu sterben. Als die anderen Kunden Mama entlassen hatten, hatte es nicht so wehgetan. Es hatte ja immer noch den Bürgermeister gegeben, seine Bibliothek und ihre Verbindung mit der Frau. Doch jetzt war auch die letzte Hoffnung weg. Diesmal fühlte sie sich abgrundtief betrogen.
Wie sollte sie ihrer Mama unter die Augen treten?
Die spärlichen Münzen hatten Rosa stets auf die eine oder andere Art und Weise geholfen. Eine zusätzliche Handvoll Mehl. Ein Stück Fett.
Ilsa Hermann starb ebenfalls tausend Tode - weil sie Liesel endlich loswerden wollte. Das Mädchen sah es in der Art, wie sie den Morgenmantel ein wenig enger um den Körper raffte.
Die Schwerfälligkeit ihrer Trauer hing immer noch in ihrem Dunstkreis, aber es war klar, dass sie die Sache hinter sich bringen wollte. »Sag deiner Mama«, sprach sie wieder - ihre Stimme renkte sich nun ein, während die Worte sich zu einem Satz vereinigten, »dass es uns leidtut.« Sie trieb das Mädchen in Richtung Tür.
Liesel fühlte es zwischen den Schulterblättern. Den Schmerz, den Aufprall der endgültigen Abweisung.
Das war's?, fragte sie sich im Stillen. Sie werfen mich einfach raus?
Langsam hob sie den leeren Sack hoch und schob sich zur Tür. Als sie draußen war, drehte sie sich um und schaute der Frau des Bürgermeisters einige Sekunden lang ins Gesicht. Sie schaute ihr mit einem beinahe wilden Stolz direkt in die Augen und sagte: »Danke schön.« Ilsa Hermann lächelte nutzlos, geschlagen.
»Wenn du herkommen willst, um zu lesen«, log die Frau (jedenfalls empfand es das Mädcher in seinem schockierten, trauernden Zustand als Lüge), »dann bist du herzlich willkommen.«
In diesem Augenblick war Liesel erstaunt über die Breite der Tür. Da war so viel Platz. Warum brauchten Leute so viel Platz, nur um durch eine Tür zu gehen? Wenn Rudi hier gewesen wäre, hätte er sie ausgelacht - wie sollten sie sonst ihr ganzes Zeug ins Haus bringen?
»Auf Wiedersehen«, sagte das Mädchen. Langsam und voller Trübsinn schloss sich die Tür.
Liesel ging nicht weg.
Lange saß sie auf den Stufen und schaute auf Molching hinab. Es war weder warm noch kalt, und der Blick auf die Stadt war klar. Es war still. Molching lag wie unter einer Glasglocke.
Sie öffnete den Brief. Der Bürgermeister Heinz Hermann erklärte ganz genau, warum er die Dienste von Rosa Hubermann nicht mehr in Anspruch nehmen konnte. Er ging dabei diplomatisch vor, erläuterte, dass es Heuchelei wäre, wenn er selbst sich eine derartige kleine Annehmlichkeit leisten würde und andererseits der Bevölkerung riet, sich auf härtere Zeiten einzustellen.
Endlich stand sie auf und trat den Heimweg an. Der Moment der Reaktion kam, als sie das Schild »Steiner - Schneidermeister« in der Münchener Straße sah. Die Traurigkeit fiel von ihr ab, und sie wurde von Wut übermannt. »Dieser verdammte Bürgermeister«, flüsterte sie.
Weitere Kostenlose Bücher