Die Bücherdiebin
den Weg hinaus.
Schlag mich, dachte Liesel. Mach schon, schlag mich.
Ilsa Hermann schlug sie nicht. Sie zog sich nur zurück, in die hässliche Luft ihres wunderschönen Hauses, und erneut wurde Liesel alleingelassen. Sie klebte an den Stufen, zögerte, sich umzuwenden. Sie wusste, wenn sie es tat, würde die Glasglocke über Molching zersprungen sein, und sie wäre froh darüber.
Als letzte Amtshandlung des erliegenden Geschäfts las sie den Brief ein zweites Mal. Als sie das Haus der Hubermanns fast erreicht hatte, knüllte sie das Papier so fest zusammen, wie sie konnte, und warf es gegen die Tür, als wäre es ein Stein. Ich habe keine Ahnung, was die Bücherdiebin erwartete, aber der Papierball traf auf die mächtige Holzplatte und plumpste dann zurück auf die Stufen. Er landete vor ihren Füßen.
»Typisch«, bemerkte sie und trat ihn ins Gras. »Völlig nutzlos.«
Sie stellte sich vor, was mit dem Papier geschehen würde, wenn es das nächste Mal regnete und die geklebte Glasglocke über Molching umkippte. Sie sah vor sich, wie sich die Worte auflösten, Buchstabe für Buchstabe, bis nichts mehr davon übrig war. Nur Papier. Nur Erde.
Wie das Leben so spielt, war Rosa in der Küche, als Liesel ins Haus kam. »Und?«, fragte sie. »Wo ist die Wäsche?«
»Keine Wäsche heute«, sagte Liesel zu ihr.
Rosa kam zu ihr und setzte sich an den Küchentisch. Sie wusste es. Plötzlich wirkte sie viel älter. Liesel stellte sich vor, wie sie aussehen könnte, wenn sie ihren Haarknoten öffnen und die Strähnen auf die Schultern fallen lassen würde. Ein graues Tuch aus dehnbaren Haaren.
»Was hast du angestellt, Saumensch?« Der Satz war trübe. Rosa schaffte es nicht, ihn mit ihrem Gift zu tränken.
»Es ist meine Schuld«, sagte Liesel. »Ganz und gar meine Schuld. Ich habe die Frau des Bürgermeisters beleidigt und ihr gesagt, sie solle aufhören, ihren toten Sohn zu beweinen. Ich habe sie >erbärmlich< genannt. Und sie haben dich gefeuert. Hier.« Sie ging zur Anrichte, wo die Kochlöffel standen, griff sich ein paar davon mit einer Hand und legte sie vor Rosa auf den Tisch. »Such dir einen aus.«
Rosa berührte einen, umschloss ihn mit der Hand, ließ ihn dann jedoch sinken. »Ich glaub dir kein Wort.«
Liesel war hin- und hergerissen zwischen Kummer und abgrundtiefer Verwirrung. Das eine Mal, da sie selbst nach einer Abreibung verlangte, bekam sie keine. »Es ist meine Schuld.«
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Mama, stand auf und strich Liesel gar über das wächserne, ungewaschene Haar. »Ich weiß, dass du so etwas nicht sagen würdest.«
»Ich hab's aber gesagt!«
»Also schön, du hast es gesagt.«
Liesel verließ die Küche. Sie hörte, wie der Kochlöffel mit einem Klicken in den Aluminiumkrug gestellt wurde, wo er hingehörte. Als sie in ihrem Zimmer verschwand, landeten die Löffel samt Krug auf dem Küchenfußboden.
Später ging sie hinunter in den Keller, wo Max im Dunkeln stand und vermutlich schon wieder mit dem Führer boxte.
»Max?« Das Licht dämmerte vor sich hin - eine rote Münze, die in der Ecke schwebte. »Kannst du mir beibringen, wie man Liegestütze macht?«
Max zeigte es ihr und hob gelegentlich ihren Oberkörper an, um ihr zu helfen, aber trotz ihres hageren Aussehens war Liesel stark und konnte ihr Gewicht ohne große Schwierigkeit selbst halten. Sie zählte nicht, wie viele sie schaffte, aber an diesem Abend machte die Bücherdiebin in dem düster schimmernden Keller genug Liegestütze, um etliche Tage lang Muskelkater zu verspüren. Selbst als Max sie darauf hinwies, dass sie sich überanstrengte, machte sie noch weiter.
Im Bett las sie mit Papa, der merkte, dass etwas nicht stimmte. Es war das erste Mal seit einem Monat, dass er gekommen war und sich zu ihr gesetzt hatte. Sie fühlte sich getröstet, wenn auch nur ein klein wenig. Irgendwie wusste Hans Hubermann immer die richtigen Worte, wusste, wann er bleiben und wann er gehen musste.
Vielleicht war Liesel die einzige Sache, in der er sich ganz und gar auskannte.
»Geht es um die Wäsche?«, fragte er.
Liesel schüttelte den Kopf.
Papa hatte sich ein paar Tage nicht rasiert, und er rieb sich alle paar Minuten über die juckenden Bartstoppeln. Seine silbrigen Augen waren flach und ruhig, voll sanfter Wärme, wie immer, wenn es um Liesel ging.
Als das Lesen zu Ende war, schlief Papa ein. Und erst dann sagte Liesel, was sie die ganze Zeit schon hatte sagen wollen.
»Papa«, flüsterte sie, »ich glaube,
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