Die Bücherdiebin
anderen Grund braucht, um zu stehlen - außer schlichten Spaß. Sein Name war Viktor Chemmel.
Anders als die meisten Leute, die sich mit Diebstahl jeglicher Form abgaben, besaß Viktor Chemmel alles. Er lebte in einer der besten Wohngegenden Molchings, hoch oben in einer Villa, die konfisziert worden war, nachdem man die Juden daraus vertrieben hatte. Er besaß Geld. Er besaß Zigaretten. Aber er wollte mehr.
»Es ist doch kein Verbrechen, ein bisschen mehr haben zu wollen«, behauptete er. Er lag auf dem Rücken im Gras, umringt von einigen Jungen. »Mehr zu wollen ist unser fundamentales Recht als Deutsche. Was sagt unser Führer immer?« Er beantwortete sich selbst die rhetorische Frage: »Wir nehmen uns, was rechtmäßig uns gehört.«
Dem ersten Eindruck nach war Viktor Chemmel ein typischer jugendlicher Großkotz. Unglücklicherweise besaß er auch ein gewisses Charisma, eine Art Aufforderung, sich ihm anzuschließen. Und unglücklicherweise gelang es ihm nicht immer, dieses Charisma zu verbergen.
Als Liesel und Rudi sich der Gruppe am Fluss näherten, hörte Liesel ihn eine weitere Frage stellen: »Wo bleiben denn nun diese beiden Trottel, von denen ihr in höchsten Tönen schwärmt? Es ist schon zehn nach vier.«
»Nicht nach meiner Uhr«, sagte Rudi.
Viktor Chemmel stützte sich auf den Ellbogen. »Du hast doch gar keine Uhr an.«
»Wäre ich hier, wenn ich reich genug wäre, um mir eine Uhr zu kaufen?«
Der neue Anführer setzte sich auf und lächelte. Er hatte ebenmäßige, weiße Zähne. »Und wer ist die kleine Hure da?« Liesel, die an Beschimpfungen gewöhnt war, betrachtete lediglich die nebelverhangene Oberfläche seiner Augen.
»Im letzten Jahr«, erklärte sie unverfroren, »habe ich mindestens dreihundert Äpfel gestohlen und Dutzende von Kartoffeln. Stacheldraht macht mir keine Probleme, und ich kann genauso schnell laufen wie die anderen.«
»Tatsächlich?«
»Ja.« Sie wich keinen Zentimeter zurück. »Alles, was ich will, ist ein kleiner Teil unserer Beute. Ein Dutzend Äpfel hier und da. Ein paar Reste für mich und meinen Freund.«
»Nun, ich denke, das lässt sich machen.« Viktor zündete sich eine Zigarette an und hob sie an seine Lippen. Den nächsten Mundvoll Rauch blies er Liesel direkt ins Gesicht.
Liesel hustete nicht.
Es war dieselbe Gruppe wie im letzten Jahr, mit Ausnahme des Anführers. Liesel fragte sich, warum keiner der anderen Jungen sich an die Spitze gestellt hatte, aber als sie von einem zum anderen schaute, erkannte sie, dass sie nicht das Zeug dazu gehabt hätten. Das Stehlen bereitete ihnen keine Probleme, aber man musste ihnen sagen, was sie tun sollten. Sie wollten, dass man es ihnen sagte, und Viktor Chemmel wollte einer sein, der das Sagen hatte. Es war ein Abkommen, das beide Seiten zufriedenstellte.
Einen Augenblick lang wünschte sich Liesel Arthur Berg zurück. Oder hätte auch er sich Viktor Chemmel untergeordnet? Es spielte keine Rolle. Liesel wusste lediglich, dass Arthur Berg nicht den Hauch eines tyrannischen Zuges an sich gehabt hatte, während Viktor Chemmel ordentlich damit aufwarten konnte. Letztes Jahr, da war sie sich sicher, hätte sie in einem Baum feststecken können, und Arthur wäre zurückgekommen, um ihr zu helfen, auch wenn er es immer anders gepredigt hatte. Sie war der festen Überzeugung, dass in diesem Jahr Viktor Chemmel nicht ein Mal zurückblicken würde.
Er stand da und betrachtete den schlaksigen Jungen und das unterernährt wirkende Mädchen. »Ihr wollt also mit mir stehlen gehen?«
Was hatten sie schon zu verlieren? Sie nickten.
Er trat näher und packte Rudi am Haar. »Ich will es hören.«
»Ja, sicher«, sagte Rudi. Mit einem Klaps auf die Stirnfransen schob Chemmel ihn zurück. »Und du?«
»Natürlich.« Liesel reagierte schnell genug, sodass ihr Haar unversehrt blieb.
Viktor lächelte. Er drückte die Zigarette aus, atmete tief ein und kratzte sich an der Brust. »Meine Herren, meine Hure, ich glaube, es ist Zeit, einkaufen zu gehen.«
Während die Gruppe sich in Bewegung setzte, blieben Liesel und Rudi am Ende, so wie stets.
»Magst du ihn?«, fragte Rudi flüsternd.
»Und du?«
Rudi dachte einen Moment lang nach. »Ich halte ihn für einen Mistkerl.« »Ich auch.«
Die Gruppe war schon ein Stück voraus.
»Komm schon«, sagte Rudi, »sonst verlieren wir den Anschluss.«
Nach ein paar Kilometern erreichten sie den ersten Bauernhof, wo sie ein erschreckender Anblick erwartete: Die Bäume, von denen
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