Die Burg der Könige
lebte.
Lange Zeit blieben sie so auf dem Boden der schmalen Galerie liegen, während die ersten Vögel anfingen zu zwitschern. Es war Agnes, die schließlich mit brüchiger Stimme wieder zu sprechen begann.
»Ich … ich habe einen fliegenden Schatten gesehen und ein Krächzen gehört«, sagte sie leise. »Es klang wie früher, wenn Parcival lahnte.« Sie machte eine hoffnungsvolle Pause. »Sag, Mathis, war das … Parcival?«
»Du meinst deinen Sakerfalken?« Mathis schüttelte den Kopf. »Sicher nicht. Es war wohl irgendein Turmfalke, den wir hier oben aufgeschreckt haben. Vielleicht auch eine Eule oder eine Dohle. Wer weiß? Es ging alles so schnell, dass ich es nicht genau gesehen habe.«
»Ich dachte, Parcival …«
»Ist wieder zu dir zurückgekommen?« Mathis runzelte die Stirn. »Agnes, Speyer ist weit weg vom Trifelser Land. Ich glaube, dein Parcival mochte dich wirklich. Soweit man das bei Tieren überhaupt sagen kann. Aber ob er eine so weite Reise auf sich nimmt, allein um seine Herrin zu verteidigen?« Er zuckte mit den Schultern und lachte leise. »Warum nicht? Lass es Parcival gewesen sein. Das ist wenigstens eine schöne Geschichte. Im Grunde …«
Er stockte, als plötzlich langsame schlurfende Schritte zu hören waren. Sofort begann Agnes erneut, in seinen Armen zu zittern.
Hört dieser Alptraum denn niemals auf? , dachte sie verzweifelt.
Mathis erhob sich vorsichtig und griff nach einem Stein, der sich vorher beim Kampf mit dem Grafen aus der Galerie gelöst hatte. Mit dem Brocken in der Hand erwartete er den Ankömmling.
Nun war auch ein Keuchen zu hören, dazu ein rasselndes Husten, das schnell lauter wurde. Endlich bog ein Mann um die Ecke der Galerie. Er taumelte mehr, als dass er ging, mit den Händen klammerte er sich an die Säulen und schob sich so Schritt für Schritt weiter vor. Blut tropfte in regelmäßigen Abständen zu Boden.
Es war Melchior von Tanningen.
Der zierliche Barde war dem Tode nahe. Noch immer steckte der Armbrustbolzen in seiner Schulter, doch auch an anderen Stellen seines Wamses zeigten sich rote Flecken. Die rechte Hand, die noch immer den Degen aus tödlichem Toledostahl umklammert hielt, hing schlaff herab. Trotzdem lächelte er.
»Ah, habe ich Euch zu guter Letzt doch noch gefunden, Jungfer Agnes«, sagte er und deutete wie so oft eine leichte Verbeugung an, die diesmal jedoch schrecklich misslang. Er fiel nach vorne auf die Knie und hustete Blut. Mühsam zog er sich an einer der Säulen wieder hoch.
»Ich … ich fürchtete schon, ich müsste Euch noch Euren schrecklichen Gemahl vom Hals schaffen«, fuhr er stockend fort. »Aber das habt Ihr, Gott sei Dank, offenbar selbst besorgt. Wie überaus freundlich von Euch …« Er schloss kurz die Augen, während weiter Blut aus seiner Schulterwunde auf den Boden tropfte. »Nicht, dass ich einen Kampf gescheut hätte. Aber ich fühle mich zurzeit etwas … unpässlich.«
»Der Graf ist tot«, erwiderte Mathis kühl. »Und Eure beiden Gegner offenbar auch.«
Melchior nickte. »Lästige … Mücken. Haben mich gepikst. Wenn nicht der Bolzen …«
»Vielleicht sollten wir Euch ja danken«, unterbrach ihn Mathis. »Immerhin habt Ihr dafür gesorgt, dass Agnes fliehen konnte. Aber irgendwie fühle ich mich nicht danach. Warum nur?«
»Ihr … habt immer noch nicht verstanden, Meister Wielenbach.« Das Gesicht Melchiors war weiß wie der Stein hinter ihm. »Das … Reich war in Gefahr! Ich … ich hatte keine Wahl. Aber ich muss mich trotzdem bei Euch entschuldigen. Ich … ich hätte mich nie mit diesem Wahnsinnigen einlassen sollen. Erst hier im Dom sind mir die Augen geöffnet worden. Eure Vision …« Er lächelte Agnes an und schlug ein Kreuz. »Ich wurde einer göttlichen Vision teilhaftig. Nun kann ich ruhig sterben.«
Agnes wich intuitiv einen Schritt zurück. »Ich weiß nun wirklich nicht, ob das eine Vision war«, erwiderte sie zögerlich. »Es kann auch alles nur Zufall gewesen sein. Die Lanze war in dem Spalt verborgen. Es hätte sie auch schon jemand vor mir finden können.«
Melchior schüttelte den Kopf. »Es war eine Vision. Ein Zeichen Gottes. Ganz sicher.« Keuchend kramte er in einer Tasche seines blutgetränkten Wamses und hielt schließlich ein zusammengerolltes, zerknittertes Dokument in der Hand. »Der Stammbaum Eurer Ahnen, Jungfer Agnes«, erklärte er mühsam. »Hier habt Ihr ihn wieder. Euer Schicksal und das des ganzen Reiches liegen nun allein in Gottes Hand. Der
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