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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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fest. Doch sie fühlte, wie Schweiß und Tau ihre Hände mit einem glitschigen Film überzogen.
    »Rühr dich nicht!«, rief Mathis von irgendwoher über ihr. »Ich bin gleich wieder da!«
    Sie hörte Schritte, die sich hastig entfernten. Panik kroch in Agnes hoch wie ein kleines nagendes Tier. Was um Himmels willen hatte Mathis vor? Wieder rutschte sie ein winziges Stück näher auf den Abgrund zu. Sie versuchte eins zu werden mit dem Schiefer unter ihr, wie eine Eidechse drückte sie sich gegen den Stein, doch es half nichts. Erneut verlor sie eine Handbreit Boden, ihr eigenes Gewicht zog sie unerbittlich immer weiter nach unten.
    »Mathis, Mathis!«, schrie sie verzweifelt. »Wo bleibst du? Ich stürze ab!«
    Sekunden verrannen zu einer Ewigkeit. Sollte das ihr Ende sein? Nach allem, was sie durchgemacht hatte? War sie wirklich dem Schwarzen Hans, dem Hurenhändler Barnabas, dem Schäfer-Jockel und am Ende ihrem wahnsinnigen Gemahl entronnen, nur um jetzt vom Speyerer Dom in den Tod zu stürzen? Beinahe hätte Agnes verzweifelt aufgelacht, doch sie brachte keinen Laut hervor. Angst schnürte ihr die Kehle zu.
    Endlich, als sie sich bereits aufgegeben hatte, hörte sie wieder Schritte. Nur kurz darauf klatschte dicht neben ihr das Ende eines Seils auf das Dach.
    »Greif danach, schnell!«, befahl Mathis.
    »Ich … ich kann nicht«, schluchzte Agnes, die mittlerweile ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Wenn ich loslasse, stürze ich ab.«
    »Du musst! Nimm erst die eine Hand und dann die andere! Es wird schon gehen, vertrau mir.«
    Agnes biss die Zähne zusammen. Schließlich löste sie ihre rechte Hand von den Schieferplatten und griff nach dem Seil. Im gleichen Moment rutschte sie den letzten halben Meter auf den Abgrund zu.
    »Neeeiiiiiinn …«
    Ihre Fingerkuppen glitten über den rauen Stein und hinterließen dort eine blutige Spur, doch sie fühlte keinen Schmerz, nur nackte Todesangst. Plötzlich ertastete sie etwas Hervorstehendes und hielt sich krampfhaft daran fest. Es war die bleierne Regenrinne, die kurz ruckte und dann quietschend nachgab. Zwei Haken rissen aus dem Sims, und die Rinne löste sich links von ihr, so dass Agnes nun wie an einem Kranarm hinaus über den Abgrund schwebte. Das Seil baumelte nur einen halben Schritt von ihr entfernt.
    »Um Himmels willen, Agnes!«, schrie Mathis wie von Sinnen. »Greif nach dem Seil! Greif endlich danach!«
    Agnes blickte unter sich, wo es über zwanzig Schritt in die Tiefe ging. Die Morgendämmerung war mittlerweile fort­geschritten, doch über dem Boden hing noch immer zäher Nebel, eine graue wabernde Masse. Einige Kapellen stachen daraus hervor, weit hinten im Osten lag die Morgensonne auf dem Rhein und ließ ihn beinahe überirdisch schimmern.
    Es wird nicht weh tun , dachte Agnes. Es wird gar nicht weh tun. Nur ein kurzer Fall, ein dumpfer Schlag …
    »Verflucht, Agnes, greif endlich nach dem Seil! Wenn du’s nicht für dich tust, dann für mich. Ich … ich liebe dich!«
    Es war Mathis’ Stimme, die sie zurückholte in die Wirklichkeit. Sie sah das Seil direkt vor sich, wie ein mahnender Finger schien es auf sie zu deuten. Agnes schloss die Augen, schrie ihre Angst hinaus in den Morgennebel …
    Und sprang.
    Das Seil war so nass, dass sie kurz daran hinabrutschte. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Doch dann klammerten sich ihre blutigen Finger fest um das Tau, und ihr Fall endete abrupt. Wie eine Glocke schwang sie leise hin und her, neben ihr ragte die Bleirinne hinaus in die milchige Dämmerung. Im gleichen Moment gab es einen Ruck, und sie wurde Stück für Stück nach oben gezogen. Schon bald darauf befand sie sich wieder auf dem Dach.
    »Jetzt mach eine Schlinge und binde das Seil um deine Hüfte«, rief ihr Mathis in beruhigendem Ton zu. »Es ist nur noch ein kurzes Stück, dann bist du in Sicherheit.«
    Agnes gehorchte zitternd. Sie knüpfte mit ihren blutenden Fingerkuppen eine Schlaufe, schlüpfte hinein und ließ sich nach oben ziehen. Endlich erreichte sie die Galerie, wo sie keuchend zusammenbrach. Mathis schloss sie in seine Arme und drückte sie so fest an sich, dass es ihr den Atem raubte.
    »Das ist nun schon das dritte Mal, dass ich dich fast verloren habe«, flüsterte er. »Geh nie wieder von mir weg. Hörst du, Agnes? Nie wieder.«
    Er drückte sie sanft zu Boden und küsste sie. Erst jetzt spürte sie den Schmerz in ihren blutigen Fingerkuppen, doch sie empfand ihn beinahe als angenehm. Er war ein Zeichen, dass sie noch

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