Die Chronik der Drachenlanze 3 + 4
Bruder.« Tikas Tränen flossen wieder – dieses Mal nicht um sich selbst, sondern um ihn. »Ich muß dich freigeben, damit du jemanden findest, der . . .«
»Caramon!« Ein Schrei brach durch die süße Stille des Nachmittags. »Caramon, beeil dich!« Es war Tanis.
»Raistlin!« sagte der Krieger, und ohne ein weiteres Wort rannte er aus der Höhle.
Tika stand einen Moment da und sah ihm nach. Dann versuchte sie seufzend, ihr feuchtes Haar zu kämmen.
»Was ist los?« Caramon platzte in den Wagen. »Raist?«
Tanis nickte, sein Gesicht war ernst.
»Ich fand ihn so vor.« Der Halb-Elf zog den Vorhang zurück. Caramon schob ihn beiseite.
Raistlin lag auf dem Boden, seine Haut war weiß, sein Atem flach. Blut tröpfelte aus seinem Mund. Caramon kniete nieder und hob ihn in seinen Armen auf.
»Raistlin?« flüsterte er. »Was ist passiert?«
»Das ist passiert«, sagte Tanis grimmig zeigend.
Caramon sah hoch, sein Blick kam bei der Kugel der Drachen zum Stehen – die jetzt die Größe hatte, die Caramon in Silvanesti gesehen hatte. Sie lag auf dem Gestell, das Raistlin gebaut hatte, ihre Farben wirbelten ohne Unterbrechung, während er hinsah. Caramon hielt vor Entsetzen den Atem an. Furchtbare Visionen über Lorac durchfluteten ihn. Lorac wahnsinnig, sterbend...
»Raist!« stöhnte er und umarmte seinen Bruder.
Raistlins Kopf bewegte sich schwach. Seine Augenlider flatterten, und er öffnete seinen Mund.
»Was?« Caramon beugte sich über ihn, der Atem seines Bruders fühlte sich an seiner Haut eiskalt an. »Was?«
»Mein...«, flüsterte Raistlin. »Zaubersprüche. . . der uralten... mein... mein...«
Der Kopf des Magiers hing schlaff herab, seine Worte erstarben. Aber sein Gesicht war ruhig, glatt und entspannt. Sein Atem kam regelmäßiger.
Raistlins dünne Lippen teilten sich zu einem Lächeln.
Weihnachtsgäste
N ach der Abfahrt der Ritter nach Palanthas machte sich Fürst Gunther auf, um Weihnachten zu Hause zu feiern. Es war ein anstrengender, mehrtägiger Ritt. Die Straßen waren knietief mit Schlamm bedeckt. Sein Pferd brach mehr als einmal zusammen, und Gunther, der sein Pferd beinahe genausosehr liebte wie seine Söhne, ging zu Fuß, wann immer es notwendig war. Als er sein Schloß erreichte, war er erschöpft, durchnäßt und zitterte am ganzen Leib. Der Stallknecht trat heran, um sich um das Pferd zu kümmern.
»Reib ihn gut ab«, sagte Gunther, während er steif absaß.
»Heißer Hafer und...« Er fuhr mit seinen Anweisungen fort, während der Stallknecht geduldig nickte, als hätte er sich noch nie zuvor in seinem Leben um ein Pferd gekümmert. Gunther wollte sogar selbst sein Pferd in den Stall führen, als sein uralter Gefolgsmann erschien, der ihn gesucht hatte.
»Herr.«Wills zog Gunther zur Seite. »Ihr habt Gäste. Sie sind vor wenigen Stünden angekommen.«
»Wer?« fragte Gunther ohne viel Interesse, Besucher waren nichts Neues, besonders während der Weihnachtszeit. »Fürst Michael? Er konnte nicht mit uns reisen, aber ich bat ihn, auf seinem Weg nach Hause vorbeizukommen . . .«
»Ein alter Mann, Herr«, unterbrach ihn Wills, »und ein Kender.«
»Ein Kender?« wiederholte Gunther mit einer gewissen Unruhe in der Stimme.
»Leider ja, Herr. Aber macht Euch keine Sorgen«, fügte der Gefolgsmann hastig hinzu. »Ich habe das Silber in einer Kommode verschlossen, und Eure Gattin hat ihre Juwelen im Keller versteckt.«
»Hört sich an, als würden wir belagert!« knurrte Gunther. Trotzdem überquerte er schneller als sonst den Hof.
»Bei diesen Kreaturen können wir nicht vorsichtig genug sein, Herr«, murmelteWills, während er hinterhertrottete.
»Wer sind diese beiden denn? Bettler? Warum hast du sie hineingelassen?« fragte Gunther. Er wurde langsam wütend. Er wollte nur seinen Glühwein, warme Kleider und eine Rückenmassage von seiner Frau. »Gib ihnen etwas zu essen und Geld, und dann schick sie fort. Aber zuvor mußt du natürlich den Kender durchsuchen.«
»Das hatte ich ja auch vor, Herr«, sagte Wills dickköpfig. »Aber irgend etwas ist mit ihnen – insbesondere was den Alten betrifft. Er ist übergeschnappt, wenn Ihr mich fragt, aber er ist ein kluger Übergeschnappter. Er weiß etwas, was mehr als gut für ihn ist – oder für uns.«
»Wie meinst du das?«
Die beiden hatten gerade die riesigen Holztüren geöffnet, die
in den Wohntrakt des Schlosses führten. Gunther hielt inne und starrte Wills an, da er die scharfe Beobachtungsgabe seines
Weitere Kostenlose Bücher