Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
Nichts war ein kleiner silberner Dolch erschienen, am Gelenk des Magiers unter einem geschickt getarnten Lederriemen verborgen. Tanis hielt inne, seine Augen trafen Raistlins.
»Nun gut«, sagte Tanis schweratmend. »Mich würdest du, ohne einen zweiten Gedanken zu verlieren, töten. Aber du würdest deinen Bruder nicht verletzen. Caramon, halte ihn auf!«
Caramon trat einen Schritt zu seinem Bruder. Raistlin hob warnend den silbernen Dolch.
»Mach das nicht, mein Bruder«, sagte er sanft. »Komm nicht näher.«
Caramon zögerte.
»Geh weiter, Caramon!« sagte Tanis bestimmt. »Er wird dich nicht verletzen.«
»Erzähl es ihm, Caramon«, flüsterte Raistlin. Die Augen des Magiers starrten in die seines Bruders. Seine Stundenglasaugen weiteten sich, das goldene Licht flackerte gefährlich auf. »Erzähl Tanis, wozu ich in der Lage bin. Erinnere dich. So wie ich mich erinnere. Diese Erinnerung kommt immer wieder, sobald wir uns ansehen, nicht wahr, mein lieber Bruder?«
»Was soll er mir erzählen?« fragte Tanis, der nur halb zuhörte. Wenn er Raistlin ablenken konnte... sich auf ihn stürzen...
Caramon wurde leichenblaß. »Die Türme der Erzmagier...« Er stammelte. »Aber uns wurde verboten, darüber zu sprechen! Par-Salian hat gesagt...«
»Das ist jetzt egal«, unterbrach ihn Raistlin. »Es gibt nichts, was Par-Salian mir anhaben könnte. Wenn ich erst einmal besitze,
was mir versprochen wurde, dann wird nicht einmal der große Par-Salian die Macht haben, mir gegenüberzutreten! Aber das ist nicht euer Problem.«
Raistlin holte tief Luft, dann begann er zu sprechen, seine seltsamen Augen waren immer noch auf seinen Bruder gerichtet. Tanis, der nur halb zuhörte, schlich sich näher, sein Herz pochte in seiner Kehle. Eine schnelle Bewegung, und der zerbrechliche Magier würde stürzen... Dann wurde Tanis von Raistlins Stimme festgehalten, gezwungen, einen Moment stehenzubleiben und zuzuhören, fast als ob Raistlin einen Zauber geworfen hätte.
»Die letzte Prüfung im Turm der Erzmagier, Tanis, war gegen mich selbst gerichtet. Und ich habe versagt. Ich habe ihn getötet, Tanis. Ich habe meinen Bruder getötet«, Raistlins Stimme klang gelassen, »oder zumindest dachte ich, es wäre Caramon.« Der Magier zuckte die Schultern. »Wie sich herausstellte, hatten sie diese Illusion geschaffen, damit ich die Tiefen meines Hasses und meiner Eifersucht erkenne. Sie glaubten, auf diese Weise meine Seele von der Dunkelheit zu reinigen. Aber was ich in Wirklichkeit gelernt habe, war, daß mir jede Selbstbeherrschung fehlt. Da dies jedoch nicht Teil der wahren Prüfung war, wurde mein Versagen nicht angerechnet – mit Ausnahme von einer Person.«
»Ich habe beobachtet, wie er mich getötet hat!« weinte Caramon jämmerlich. »Sie ließen mich beobachten, damit ich ihn verstehen würde!« Der Mann schlug die Hände vor sein Gesicht, sein Körper zuckte in einem Schauder. »Ich verstehe es!« schluchzte er. »Ich habe es dann verstanden! Es tut mir leid! Aber geh nicht ohne mich, Raist! Du bist so schwach! Du brauchst mich...«
»Nicht mehr, Caramon«, flüsterte Raistlin mit einem sanften Seufzen. »Ich brauche dich nicht mehr!«
Tanis starrte beide an, ihm war vor Entsetzen übel. Er konnte es nicht glauben! Nicht einmal von Raistlin! »Caramon, geh weiter!« befahl er heiser.
»Bring ihn nicht dazu, näher zu kommen,Tanis«, sagte Raistlin.
Seine Stimme war liebenswürdig, als ob er Tanis’ Gedanken gelesen hätte. »Ich versichere dir – ich bin dazu fähig.Was ich mein ganzes Leben lang gesucht habe, ist jetzt in meiner Reichweite. Ich werde nicht zulassen, daß man mich aufhält. Sieh Caramon an, Tanis. Er weiß es! Ich habe ihn einst getötet. Ich kann es wieder tun. Leb wohl, mein Bruder.«
Der Magier legte beide Hände auf die Kugel der Drachen und hielt sie hoch zu der flackernden Kerze. Die Farben wirbelten wie irre in der Kugel. Eine mächtige, magische Aura legte sich um den Magier.
Tanis kämpfte gegen seine Angst, während er seinen Körper anspannte, um in einem letzten verzweifelten Versuch Raistlin aufzuhalten.Aber er konnte sich nicht bewegen. Er hörte Raistlin seltsame Worte singen. Das funkelnde, wirbelnde Licht wurde so hell, daß es seinen Kopf durchdrang. Er bedeckte seine Augen mit den Händen, aber das Licht brannte sich durch sein Fleisch, versengte sein Gehirn. Der Schmerz war unerträglich. Er stolperte zurück gegen den Türrahmen, hörte Caramon neben sich qualvoll
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