Das mechanische Herz
Kapitel 1
T aya legte die Flügel schützend um sich, als die Eisenstreben eines Drahtfährenturms vor ihr aufragten, fächerte sie dann auf und flog langsam näher heran. Das gewaltige Bauwerk hielt den schneidenden Wind ab, und mit einem leisen Seufzer der Erleichterung spürte sie den Tragbalken unter ihren dicken Stiefelsohlen. Sie zog die Knie an und ging in Kauerstellung, um den Aufprall abzufedern, zog den Kopf ein, faltete die Arme mit den Flügeln daran zusammen und duckte sich in den sicheren Hafen.
Die Drähte summten im scharfen Wind. Er ließ das Metall unter ihren Füßen erzittern und vibrieren, selbst der Turm als Ganzes schwankte leicht. Sie nahm sich einen Moment Zeit, das Fluggeschirr in Ruhestellung – Schwungfedern abgespreizt und Flügel angelegt – einrasten zu lassen, ehe sie die Arme aus den Lederriemen löste und sich mit einer am Geschirr befestigten Leine sicherte, die sie um eine der schmalen Verstrebungen des Tragbalkens schlang und an ihrem Gürtel festhakte.
„Schon besser!“, stöhnte sie, während sie ihre schmerzenden Schultern massierte. Sie nahm die Fliegerbrille ab und wischte sie am Jackenärmel sauber. An den Brillengläsern klebten tote Insekten und die fettige Rußschicht, die sich unvermeidlich darauf legte, sobald Taya über eine der zahlreichen Raffinerien der Stadt flog.
Der Flug von Tertius hier herauf war normalerweise ein Kinderspiel, sorgten doch die Thermalwinde über den Schmelzöfen für mühelosen Auftrieb. Heute jedoch hatten ihr die Diispirazu schaffen gemacht, die heftigen Winde mit den unberechenbaren Böen, die stets im Spätherbst von den Gipfeln der Yeovil-Bergkette her in die Stadt einfielen. Das Fliegen wurde riskant, wenn die Diispirawehten. Als ihr zuvor eine der Böen den Thermalwind gestohlen hatte, war sie gezwungen gewesen, einer lahmen Ente gleich mit den Flügeln zu schlagen, um nicht völlig abzusacken. Jetzt noch zuckten ihr sämtliche Muskeln in den Schultern, und unter ihrem Fliegeranzug aus Leder fing der Schweiß gerade erst an zu trocknen, der sich durch die Anstrengung auf ihrer Haut gebildet hatte.
War es noch lange bis Dienstschluss?
Taya setzte die Brille auf, um ihre Augen vor dem kalten Wind zu schützen, und ließ den Blick über die unter ihr liegende Berglandschaft schweifen. Dicht bebaute Terrassen zogen sich den Hang hinab bis in den düsteren Rußnebel aus den Schornsteinen der Fabriken, die im untersten Abschnitt des Berges lagen. Dieser unterste Sektor der Stadt lag immer im Schatten der Rauchwolken. Dort, in Tertius, schuftete die Kaste der Famulaten in den Bergwerken und Manufakturen, um die Metalle und Waren zu produzieren, die Ondinium, die Hauptstadt Yeovils, am Leben hielten. Tertius – dort war Taya zur Welt gekommen, und dort wollte in Kürze ihre Schwester Hochzeit feiern.
Um den gesamten Berg, auf dem Ondinium stand, zogen sich dicke Steinmauern, die die einzelnen Sektoren der Stadt voneinander trennten: Primus, der Sektor, in dem die Erhabenen lebten, Secundus, Heimat der Kardinäle, und das Tertius der Plebejer. Undurchlässig waren diese Mauern nicht, es gab in regelmäßigen Abständen Tore, die auch offenstanden. Nur wurde jedes dieser Tore von strengen Liktoren bewacht, deren Aufgabe es war, eine ungehemmte Vermischung der einzelnen Kasten zu unterbinden.
Lediglich Ikarier wie Taya und höhergestellte Persönlichkeiten, denen die über den Straßen der Stadt an Drahtseilen verkehrenden Kabinen der Drahtfähre zur Verfügung standen, reisten ungehindert von einem Sektor zum anderen. Allerdings wurden selbst die Passagiere der Drahtfähren auf den Zwischenstationen kontrolliert, sobald sie umstiegen, besonders, wenn sie den Sektor Primus passierten.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte Taya die in regelmäßigen Abständen aus den Sektorenmauern ragenden rußgeschwärzten Türme nach einer Uhr ab.
Sie lächelte, als sie eine entdeckt hatte: Nur noch eine knappe Stunde, dann durfte sie heimgehen und sich auf die Hochzeit vorbereiten. Vielleicht schaffte sie es sogar, sich im Oporphyrturm, wo sie einen Bericht aus der Hochschule für Mathematik abzuliefern hatte, so lange aufzuhalten, dass man ihr danach keinen weiteren Flug mehr aufs Auge drücken konnte. Solange ihr der Dekatur, an den der Bericht ging, keinen neuen Auftrag mitgab, blieb ihr bis zum Fest noch genug Zeit.
Das Metall unter ihren Füßen bebte und zitterte, und Taya griff unwillkürlich nach der Verstrebung, die neben ihr aufragte.
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