Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
hätte er eine Gestalt im Türeingang auf der anderen Straßenseite erkennen können. Aber Tanis sah nicht aus dem Fenster, seine Augen waren auf die Stufen gerichtet.
»Caramon!«
Der kräftige Krieger saß sofort kerzengerade, seine Hand griff unwillkürlich nach seinem Schwert, noch bevor er sich umdrehte und seinen Bruder fragend ansah.
»Ich habe draußen ein Geräusch gehört«, flüsterte Raistlin. »So wie wenn eine Schwertscheide gegen eine Rüstung schlägt.«
Caramon schüttelte den Kopf, um die Schläfrigkeit zu vertreiben, und kletterte mit dem Schwert in der Hand von seinem Lager. Er schlich zur Tür, bis auch er das Geräusch wahrnahm,
das seinen Bruder aus seinem leichten Schlaf geweckt hatte. Ein Mann in Rüstung bewegte sich verstohlen im Korridor vor ihren Räumen. Dann konnte Caramon das schwache Licht einer Kerze durch einen Türspalt sehen. Das Geräusch der klappernden Rüstung hörte direkt vor ihrem Zimmer auf.
Caramon machte Raistlin ein Zeichen. Raistlin nickte und verschmolz mit den Schatten. Seine Augen wirkten abwesend. Er rief sich einen Zauberspruch ins Gedächtnis.
Das Kerzenlicht unter der Tür flackerte. Der Mann mußte die Kerze in die andere Hand genommen haben, um seinen Schwertarm frei zu haben. Caramon schob langsam und geräuschlos den Türriegel zurück. Der Mann zögerte, vielleicht war er sich nicht sicher. Er wird es schon noch schnell genug herausfinden, dachte Caramon.
Caramon riß plötzlich die Tür auf. Er sprang vor, packte die dunkle Gestalt und zerrte sie ins Zimmer. Mit seiner ganzen Kraft schlug der Krieger den Mann zu Boden. Die Kerze fiel runter, ihre Flamme erstickte im geschmolzenen Wachs. Raistlin begann einen Zauberspruch zu singen, der ihr Opfer in einer klebrigen, spinnenähnlichen Substanz festhalten würde.
»Halt! Raistlin, hör auf!« schrie der Mann. Caramon, der die Stimme erkannte, ergriff seinen Bruder und schüttelte ihn, um seine Trance zu unterbrechen.
»Raist! Es ist Tanis!«
Zitternd kam Raistlin aus seiner Trance. Dann begann er zu husten und griff sich an die Brust.
Caramon warf seinem Zwillingsbruder einen besorgten Blick zu, aber Raistlin wehrte ihn mit einer Handbewegung ab. Caramon drehte sich um und half dem Halb-Elfen auf die Füße.
»Tanis!« schrie er und zerquetschte den Halb-Elfen fast in seiner freudigen Umarmung. »Wo warst du?Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Bei allen Göttern, du frierst ja! Ich werde das Feuer schüren. Raist«, Caramon wandte sich an seinen Bruder, »ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«
»Mach dir um mich keine Sorgen!« flüsterte Raistlin. Der Magier sank, nach Atem ringend, auf sein Lager zurück. Seine
Augen glitzerten golden im flackernden Feuer, als er den Halb-Elfen musterte, der sich dankbar neben dem Kamin niederkauerte. »Du solltest lieber die anderen holen.«
»Du hast recht.« Caramon steuerte auf die Tür zu.
»Zuerst würde ich mir etwas anziehen«, bemerkte Raistlin sarkastisch.
Caramon errötete und eilte zu seinem Bett zurück. Nachdem er eine Lederhose und ein Hemd angezogen hatte, ging er in den Korridor und schloß leise die Tür hinter sich. Tanis und Raistlin konnten hören, wie er an die Tür der Barbaren klopfte. Sie konnten Flußwinds ernste Frage und Caramons eilige, aufgeregte Erklärung hören.
Tanis sah kurz zu Raistlin – die seltsamen Stundenglasaugen des Magiers waren mit einem durchdringenden Blick auf ihn gerichtet – und drehte sich dann verlegen dem Feuer zu.
»Wo bist du gewesen, Halb-Elf?« fragte Raistlin mit seiner sanften, flüsternden Stimme.
Tanis schluckte nervös. »Ich wurde von einem Drachenfürsten gefangengenommen.« Er hatte sich schon eine Antwort zurechtgelegt, die er nun aufsagte. »Der Fürst dachte natürlich, ich wäre einer seiner Offiziere, und bat mich, ihn zu seiner Truppe zu begleiten, die außerhalb der Stadt stationiert ist. Natürlich mußte ich dem Befehl nachkommen, sonst wäre er argwöhnisch geworden. Erst heute nacht konnte ich verschwinden.«
»Interessant.« Raistlin hustete beim Sprechen.
Tanis sah schnell zu ihm hoch. »Was ist interessant?«
»Ich habe dich noch nie lügen hören, Halb-Elf«, antwortete Raistlin sanft. »Ich finde es... recht... faszinierend.«
Tanis öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, kam Caramon mit Flußwind, Goldmond und Tika zurück.
Goldmond eilte auf Tanis zu und umarmte ihn. »Mein Freund!« sagte sie, ihr versagte die Stimme, und sie drückte ihn fest
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