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Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Titel: Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Keller
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Völker verschwunden sind und die Welt dem Menschen überlassen hatten, aber ich kenne sie nicht.
    In Gegenden in denen Kindstod durch Hunger und Krankheit etwas Alltägliches waren, gab es immer genug Leute, die sich der Findelkinder annahmen, zumal meist nur eines von fünf eigenen Kindern das arbeitsfähige Alter erreichte. Doch die Kinder der Hürnin waren in diesen Tagen gesund und kräftig. Anders als in den Zeiten davor starb kaum eines schon vor dem Blutritual und nur wenige währenddessen. So lebten die Kuckuckskinder nach der Lebensweise der Fremden und lernten ihre Sitten und Geschichten, bis zu dem Tag nach zwölf, dreizehn oder vierzehn Jahren, wenn sie geschlechtsreif wurden. An diesem Tag erwachten ihre verborgenen Kräfte und sie riefen den Horndämon, der sie für den Rest ihres Lebens begleiten würde. Mit seiner Hilfe töteten sie alle, die sich in ihrer Umgebung aufhielten und machten sich dann mit ihrem Dämon auf, um in ihre wirkliche Heimat zurückzukehren: Hornhus. Manchmal brachten sie nur diejenigen um, die mit ihnen zusammen in einer Hütte lebten, manchmal noch nicht einmal die. Ein Mord reichte, um das Tor zwischen den Welten lange genug offen zu halten, aber manchmal kam es auch vor, dass ein Hürnin wie Erich ein gesamtes Dorf auslöschte.
    " Wenn wir zu den anderen Hürnin heimkehren, wird man Euch vor den Blauen Rat stellen und er wird prüfen, was Ihr gelernt habt. "
    "Was kann ich schon Wichtiges wissen?", fragte Erich.
    " Alles kann wichtig sein. ", antwortete ich. " Die Sprache, die Bräuche, sogar die Art und Weise, wie Eure Zieheltern die Felder bestellen. "
    "Bestellten.", berichtigte mich mein Herr.
    Ich musste lächeln. Er nahm sein neues Wesen schneller an, als ich zu hoffen gewagt hatte. Noch ein paar Jahre und er würde vielleicht auch mit dem unsichtbaren Kristallgefüge umgehen können, das alles miteinander verband. Ich konnte es sehen, wie man die Spiegelungen von Wolken im Wasser sehen kann. Meist verzerrt und unruhig, aber doch unmissverständlich vorhanden. Es war das Muster nach dem alles, was war, seine Fäden webte. Wer sich geschickt anstellte und entlang dieser Fäden bewegte, erarbeitete sich so ein Leben, das weich war wie Seide, bei anderen reichte es nur für Flachs, aber niemand hatte einen Einfluss darauf, wann der Lebensfaden durchtrennt wurde.
    Noch war Erich nicht bereit dafür, sich mit den Feinheiten des Kristallgefüges zu beschäftigen. Noch würde er viele Nächte lang Alpträume haben und sich tagsüber dafür Vorwürfe machen, was im Dorf geschehen war. Ich beruhigte ihn damit, dass das die Natur der Hürnin war und erzählte ihm, wie Schlupfwespen ihre Eier in die Körper lebender Opfer legten, damit ihre Nachkommen sich an ihnen nähren konnten. Die Wirtstiere starben, aber dafür entstand im Gegenzug neues starkes Leben.
    Es war ein schlechter Vergleich und er hatte auf Erich nicht die beabsichtigte Wirkung. Anstatt stolz darauf zu sein, zog er sich für eine Weile zurück und wollte nichts mehr davon hören. Es würde einige Zeit dauern, bis er nicht nur verstand, was er war, sondern auch danach lebte. Es war eine gefährliche Zeit, denn die Prägung auf die Werte der Zieheltern war nicht rückgängig zu machen und zu morden gehörte in den seltensten Fällen zu deren Erziehung. Es war schon öfter vorgekommen, dass das entstandene Trauma erst nach Jahren oder Jahrzehnten Wirkung zeigte und der Hürnin unter der Last seines Gewissens zusammenbrach. Aber auch wenn es glimpflich verlief: ein Trauma war es allemal. Und kein Hürnin entging ihm.
    Wir brachen auf, als das Wetter sich zu verschlechtern begann. Vom fernen Meer her schoben sich dunkle Wolkenbänke heran, in denen gespenstisch Blitze zuckten. Der auffrischende Wind brachte Feuchtigkeit mit sich und kühlte Erichs erhitztes Gesicht. Er verstand ein wenig vom Fallenstellen und mit meiner Hilfe erlegte er ein paar Eichhörnchen und ein verletztes Kaninchen, an dem zwar nicht mehr viel dran war, das aber mit dem Rest seines Brotes, das er aus dem Dorf mitgenommen hatte, die Nacht über den Hunger stillte. In den folgenden Tagen hatte er nicht immer so viel Glück und schlief oft erst nach einer ganzen Weile mit knurrendem Magen ein.
    „Woher weißt du so viel über diese Welt?“, wollte Erich wissen, als er eines Abends unter einem Findling Schutz vor einem kalten Nieselregen gesucht hatte. Zwischen zwei Steinen klopfte er einige Nüsse auf, die er unterwegs gesammelt hatte.
    „ Ich

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