Die Chronik der Unsterblichen 13 - Der Machdi
Verurteilten anzugaffen, zu verspotten oder gar mit faulem Obst oder anderem Unrat nach ihnen zu werfen. Hier rannte ihnen nur einmal kurz eine Gruppe Kindernach, bis sie von den Reitern verjagt wurden. Allerdings war Andrej nicht sicher, ob das für die Menschen in dieser Stadt sprach, oder ob der Anblick der zum Tode Verdammten schon so selbstverständlich war, dass er niemanden mehr interessierte.
Sie waren vielleicht eine Meile weit gekommen, und Andrej hatte vergeblich versucht, wenigstens noch einen Blick aus Muridas nachtfarbenen Augen zu erhaschen, als sich zwei weitere Reiter zu ihnen gesellten. Einer von ihnen war Sharif. Sorgfältig vermied Andrej es, ihn direkt anzusehen, spürte aber umgekehrt den Blick des Janitscharen deutlich länger auf sich ruhen, als ihm angenehm war. Schließlich erreichten sie den Richtplatz, einen kleinen, ummauerten Hof im Herzen der Stadt, und hier sah Andrej nun doch die Neugierigen und Gaffer, die er bisher vermisst hatte, eine so dicht gedrängte Menge, dass Sharifs Männer mit Schwertern und Speeren Platz für den Wagen schaffen mussten. Ihr Tempo nahm dennoch beständig ab, während sie sich dem weit offen stehenden Tor näherten, durch das sie bereits die eigentliche Hinrichtungsstätte sehen konnten: ein grob zusammengezimmertes Podest, auf dem ein simpler Holzblock stand. Beides war schwarz von eingetrocknetem Blut, und zumindest dem ihnen entgegenschlagenden Gestank nach zu schließen, war es wohl auch nicht die erste Hinrichtung, die an diesem Tag stattfand. Einige der Männer neben ihm begannen unruhig zu werden, und auf dem einen oder anderen Gesicht erschien ein Ausdruck einer anderen Art von Furcht, als begriffen sie erst jetzt wirklich, was gleich geschehen würde. Als sie das Tor fast erreicht hatten, kam der Wagen mit einem Ruck zum Stehen, und Murida sprang auf und begann zu schreien. Ihre Kapuze fiel zurück, und ihr langes pechschwarzes Haar quoll wie eine Flut aus geschmolzenem Teer darunter hervor, sodass nun jedermann sehen konnte, dass sie eine Frau war. Ihr eigentlich so schönes Gesicht war zu einer Grimasse aus purem Entsetzen verzerrt.
»Nein!«, schrie sie. »Das dürft ihr nicht! Ich habe nichts getan! Ihr dürft mich nicht töten!« Für die Dauer eines Atemzuges herrschte erschrockene Stille ringsum, und wohin Andrej auch sah, erblickte er Unglauben und Überraschung, hier und da auch Erschrecken. Anscheinend war es doch nicht üblich, dass auch Frauen hingerichtet wurden, so wie er bisher angenommen hatte. Schreiend setzte Murida zum Sprung vom Wagen an, doch der eiserne Ring an ihren Fußfesseln riss sie so brutal zurück, dass sie auf die Knie fiel. Sofort rappelte sie sich wieder auf und schrie nur noch gellender. Sharif drängte sein Pferd durch die Menge direkt neben sie und stieß sie mit einem Fußtritt abermals auf die Knie. »Gib Ruhe, Weib!«, schnauzteer. »Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du dich mit diesem Verbrecher eingelassen hast!«
»Das wagst du nicht!«, kreischte Murida. Sie sprang schon wieder auf, soweit es ihre gefesselten Füße zuließen, und fuhr zu Sharif herum. »Der Machdi beschützt seine Kinder! Er wird nicht zulassen, dass du Hand an mich legst!« »Nein, wird er nicht?« Sharif lachte hässlich, beugte sich blitzschnell im Sattel vor und packte ihr Haar, um ihren Kopf in den Nacken zu zwingen und sie zugleich so weit an sich heranzureißen, dass sich die kurze Kette zwischen ihren Fußgelenken mit einem Knall spannte. Murida keuchte vor Schmerz.
»Ach ja?«, höhnte Sharif noch einmal. »Wird er das nicht?
Wo ist er denn jetzt, dein Machdi? Ich sehe ihn nicht!
Warum ist er nicht hier, um dich zu retten, mein Täubchen?«
Unter schadenfrohem Gelächter, aber auch erschrockenem Raunen wand sich Murida immer verzweifelter in Sharifs Griff, doch der Hauptmann hielt sie nicht nur unerbittlich fest, sondern zwang ihr Gesicht herum und drückte ihr einen langen, brutalen Kuss auf die Lippen. Das Lachen ringsum wurde lauter- und dann schrie Sharif plötzlich auf, warf den Kopf zurück und schleuderte das Mädchen aus derselben Bewegung heraus zu Boden. Blut lief in einem dunkelroten zähen Strom aus der tiefen Wunde, die plötzlich in seiner Unterlippe klaffte. »Das Miststück hat mich gebissen!«
Unwillkürlich hatte Andrej sich so fest gegen seine Ketten gestemmt, dass sie ein hörbares Ächzen von sich gaben.
Dabei wusste er, dass dieses kleine Intermezzo Muridas Idee gewesen war, die
Weitere Kostenlose Bücher