Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
hatte keinen Sinn mehr zu lügen. »Ich habe Jibb besucht«, sagte sie ohne Umschweife.
»Warum?«
»Weil es mir schwer fällt, die Herrschaft über meinen Bezirk aufzugeben«, gab sie zu. »Ich war jetzt zweimal da. Ich vertraue Jibb. Aber ich kann offenbar nicht -«
»Warte«, sagte er, schüttelte den Kopf und ging um den Schreibtisch herum, um sich direkt vor sie zu stellen. »Willst du mir sagen, dass du dich zweimal aus dem Zentrum geschlichen hast, weil du nachsehen wolltest, wie es in deinem Bezirk läuft?«
Melyor unterdrückte ein Grinsen. Sie wusste, dieser Gedanke war absurd. So absurd, dass Cedrych ihr offenbar glaubte. »Ja.« Sie holte tief Luft und gestattete sich ein Lächeln. »Und weil ich sehen wollte, ob ich es konnte.« Er starrte sie an, ohne etwas zu sagen. Seine Züge waren wie Stein. Dann nickte er schließlich. »Das Letztere hatte ich mir schon gedacht«, sagte er.
»Dann hast du es also gewusst«, bemerkte sie.
»Dass du das Zentrum verlassen hattest? Ja.« Nun lächelte er sogar. »Aber sei nicht enttäuscht. Hier herauszukommen, ohne den Alarm in Gang zu setzen oder meine Wache aufmerksam zu machen, ist keine Kleinigkeit.«
Sie erwiderte sein Lächeln, aber nur kurz. Der Oberlord hielt noch etwas zurück. Sie spürte das in seiner Stimme, seinem Verhalten. Sie hatte ihn vielleicht kurz abgelenkt, aber sie verzögerte nur das Unvermeidliche.
»Und, wie laufen die Dinge in deinem Bezirk?«, fragte Cedrych, setzte sich wieder hin und lehnte sich bequem zurück.
»Gut. Kein Anlass zur Sorge.«
»Es geht Jibb gut?«
Melyor rutschte unruhig auf ihrem Sessel herum. Diese Wendung gefiel ihr überhaupt nicht. »Ja.«
»Gut. Ich weiß, wie wichtig er dir ist.«
Sie starrte ihn an und fragte sich, ob die vage Drohung in seinen Worten Absicht gewesen war. Aber da sie Cedrych kannte, hatte sie kaum Zweifel daran. Halte ihn aus dieser Sache raus, du Mistkerl. Wenn du etwas willst, wende dich an mich, aber halte ihn raus. »Er ist ein guter Mann«, sagte sie, sorgfältig um einen neutralen Tonfall bemüht. »Und er hat viel zu tun.«
Zu spät erkannte sie, dass sie sich selbst in den Hinterhalt begeben hatte. »Wie meinst du das?«, fragte sie, aber sie wusste schon, was er sagen würde.
»Genau das. Ich habe nicht nur von dem Zauberer gehört, sondern auch, dass Jibb gestern einen Ausflug in den Einundzwanzigsten unternommen hat. Dort hat er sich mit zweien deiner Männer - entschuldige, seiner Männer - getroffen und ist mit ihnen in den Tunneln verschwunden.« Er hielt inne, drückte die Fingerspitzen aneinander und starrte Melyor dabei unverwandt an. »Ein seltsamer Zufall, findest du nicht auch, dass ausgerechnet Jibb und zwei seiner Männer in diesem Bezirk waren, als der Zauberer in den Hinterhalt geriet?«
Melyor regte sich nicht. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie hatte im Grunde nur zwei Möglichkeiten, und beide waren nicht sonderlich begeisternd. Sie konnte behaupten, dass Jibb ohne ihr Wissen gehandelt hatte - sie kannte Jibb und wusste, dass er jederzeit die alleinige Verantwortung dafür übernehmen und sie niemals verraten würde -, oder sie konnte zugeben, dass sie ihrem Sicherheitschef befohlen hatte, den Zauberer zu töten, und die Verantwortung für die Flucht des Fremden selbst übernehmen. Das war das Richtige - sie war es Jibb schuldig. Aber diese Möglichkeit beinhaltete auch, dass Cedrych eine Frage stellen würde, die sie nicht beantworten konnte.
»Was willst du eigentlich, Cedrych?«, fragte sie schließlich und hoffte, den Oberlord zum zweiten Mal mit ihrer Offenheit zu verwirren.
Und wieder schien es zu funktionieren. »Weißt du, wo der Zauberer ist?«, fragte er begierig und beugte sich ein wenig vor.
Melyor schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich nehme an, dass er bei Leuten vom Netzwerk ist.«
»Das denke ich auch«, sagte Cedrych. »Er muss beim Netzwerk sein. Wie sonst hätte er so schnell entkommen können?« Er stand auf und ging zum Fenster. »Ich möchte mit diesem Mann sprechen, Melyor«, sagte er und starrte auf die Blocks hinaus. »Es ist mir gleich, wie du es machst, aber ich will, dass du ihn zu mir bringst. Wir müssen wissen, wieso er hier ist und wie viel er von unserer Initiative weiß.«
»Was ist mit der Ausbildung?«, fragte sie und stand ebenfalls auf, als könnte sie das Gespräch dadurch von sich aus beenden.
»Mach dir deshalb keine Sorgen. Ich lasse sie weiter trainieren. Du konzentrierst dich darauf, den
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