Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
Stirn, als hätte ihn Melyors Frage an die Wunde erinnert. »Nein«, antwortete er, nachdem er offenbar eine Weile nachgedacht hatte. »Er hatte nur den Stock und dieses seltsame Gewand. Keinen Vogel.«
Melyor beugte sich vor und sah ihn forschend an. »Als er dem Zauberer etwas zurief, hast du verstanden, was er gesagt hat?«
»Ja«, erwiderte Jibb. »Er sagte etwas über eine Falle und dass der Zauberer aufpassen sollte.«
Melyor lehnte sich wieder zurück, und sie versuchte zu begreifen, was Jibb da gesehen hatte. »Ein Steinträger«, murmelte sie. »Es muss ein Steinträger gewesen sein.« Jibb starrte sie an. »Ein was?«
»Du hast doch sicher schon mal von den Gildriiten gehört?«, fragte sie ihn
Er wandte nervös den Blick ab. »Selbstverständlich«, sagte er und klang plötzlich sehr merkwürdig.
Sie wusste, was er dachte, was er gedacht hatte, seit sie in seine Wohnung gekommen war. Sie kämpfte verzweifelt gegen ihre Angst an. »Die Oberhäupter der gildriitischen Siedlungen im Dhaalmargebirge nennt man Träger des Steins«, erklärte sie und freute sich zu hören, wie fest ihre Stimme klang. »Angeblich handelt es sich dabei um die ursprünglichen Steine, die von Gildri und seinen Anhängern nach Lon-Ser gebracht wurden. Dieser zweite Mann, den du gesehen hast, muss ein Steinträger gewesen sein.« Wieder sah Jibb sie an. »Woher weißt du das?« Er klang beinahe wie ein quengelndes Kind.
»Es ist die vernünftigste Erklärung, Jibb«, erwiderte sie gereizt. »Er beherrschte unsere Sprache, also kam er wahrscheinlich nicht aus Tobyn-Ser. Er hatte einen Stab, aber keinen Vogel. Und so, wie du beschrieben hast, was geschehen ist, klingt es für mich, als wäre er nicht mit dem Zauberer zusammen unterwegs gewesen.«
Nach einiger Zeit nickte Jibb beinahe widerstrebend. Melyor warf einen Blick auf die Wanduhr. »Erzähl mir den Rest«, drängte sie, aber nun wieder sanfter. »Ich kann nicht mehr lange bleiben.«
Jibb kehrte zum Sofa zurück und setzte sich hin. »Sobald der Zauberer wusste, dass wir dort waren, hatten wir keine Chance mehr. Er hat seine Magie sowohl als Schild als auch als Waffe benutzt. Er hat Darel und Chev getötet.« Er zeigte auf seine Stirn. »Das da verdanke ich seinem Vogel.« Melyor grinste. »Das dachte ich mir schon.«
»Und was jetzt?«
Melyor schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wenn ein Steinträger es den ganzen Weg bis zum Einundzwanzigsten geschafft hat, ohne dass du davon wusstest, dann muss er Helfer gehabt haben.« »Das Netzwerk?«
»Wahrscheinlich. Und in diesem Fall kann der Zauberer inzwischen überall sein.«
Jibb seufzte und starrte seine Hände an. »Es tut mir Leid, Nal-Lord.«
Melyor war unendlich erleichtert, aber sie schob das Gefühl rasch beiseite. »Es ist nicht deine Schuld, Jibb. Wir haben alle keine Erfahrung mit Zauberei. Und es klingt, als hättest du wirklich nichts tun können. Wir können solche Dinge schließlich nicht vorhersehen«, fügte sie hinzu und bereute ihre Worte auf der Stelle.
Jibb sah sie scharf an, und Melyor wappnete sich gegen die Fragen, von denen sie wusste, dass sie nun fällig waren. Aber wie so oft in ihren vier gemeinsamen Jahren überraschte der Mann sie. »Wenn du einen Nachfolger für mich suchen willst, würde ich das verstehen.«
Melyor starrte ihn stirnrunzelnd an. »Wieso sollte ich das wollen?«, fragte sie spitz.
»Ich habe versagt«, erklärte Jibb. »Du hast mir einen offensichtlich sehr wichtigen Auftrag gegeben, und ich habe ihn nicht ausführen können.«
»Ich will dich nicht durch einen anderen ersetzen, Jibb.« Du bist mein bester Freund. »Ich vertraue dir vollkommen.« Sie sah ihm in die Augen. »Die Frage ist, möchtest du lieber für einen anderen arbeiten?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Warum sollte ich?«
Melyor lächelte. »Aus diversen Gründen«, sagte sie vorsichtig.
Der Mann wandte den Blick ab. »Mir fallen keine guten Gründe ein.«
Melyor stand auf und ging zur Tür. »Gut«, sagte sie. »Ich freue mich sehr, das zu hören.«
»Melyor«, sagte er, als sie die Hand schon nach dem Türgriff ausstreckte. Sie drehte sich noch einmal um und wartete. Er sah sie forschend an, und sie konnte sehen, dass er innerlich mit etwas rang. Aber wieder sollte er sie mit seiner Zurückhaltung überraschen. »Pass auf dich auf«, murmelte er schließlich und wandte sich wieder ab. »Cedrych wird nicht besonders verständnisvoll sein.« Sie nickte. »Ich war immer vorsichtig.« Es
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