Die Clans von Stratos
Faktoren könnten wichtig sein«, bemerkte Brill nach einer kurzen Pause. »Nun, die letzte Aufgabe ist ein Aufsatz. Ich möchte, daß du drei Ereignisse beschreibst, bei denen du Rätselschlösser geöffnet hast, um dir Zugang zu verborgenen Räumen zu verschaffen. Du weißt, wovon ich spreche. Beschreibe präzise, welche logischen und intuitiven Faktoren dich zur korrekten Antwort geführt haben. Beschränke jede Antwort auf hundert Worte. Nimm den Stift. Fang an.«
Maia seufzte und begann zu schreiben. Anscheinend wußte jeder von ihren Abenteuern auf Jellicoe Island. Inzwischen war die Insel wieder in der Hand derselben konservativen Kräfte, die das Verteidigungszentrum jahrhundertelang erhalten hatten. Aber das Geheimnis war endgültig gelüftet.
… deshalb war unser Erfolg an der Tür aus rotem Metall teilweise Glück… schrieb sie. Ich habe einmal zufällig etwas gehört, was mich darauf gebracht hat, wie die Worte in den Sechsecken zu deuten sein könnten…
Maia wußte, daß sie keine sehr gute Beschreibung ablieferte, aber sie schaffte es einfach nicht, ihre Gedanken zu organisieren und in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen. Wenn sie an Jellicoe dachte, erinnerte sie das an Probleme, die viel dringender und realer waren als dieser dumme Test. Wenn Leie und Brod doch nur gemerkt hätten, wie sich die Machtverhältnisse dort unten veränderten, und mit Naroins Freunden verschwunden wären, solange das noch möglich war! Jetzt war es anscheinend zu spät.
Maia beschrieb die rote Tür, die sie und Brod in der Höhle gefunden hatten, und ging dann dazu über, ihre Überlegungen im Vortragssaal des Reservats zu erläutern. Zuerst erwähnte sie, was Leie und der unglückliche junge Navigator zur Lösung des Rätsels beigetragen hatten, das sie schließlich zum Großen Former führte. Andererseits deutete sie damit natürlich auch an, daß die beiden mitverantwortlich waren für das, was folgte – das gewaltsame Eindringen in die kryptischen Gänge, was wiederum Renna dazu gezwungen hatte, seine Vorbereitungen abzubrechen und den verfrühten und tödlichen Start in einen schrecklich blauen Himmel zu wagen.
Es ist meine Schuld. Ganz allein. Maia schloß die Augen und atmete tief durch. Ich kann jetzt nicht darüber nachdenken. Ich muß es verschieben. Auf später.
Maia beendete ihre Zusammenfassung und legte das zweite Blatt auf das erste. Dann starrte sie auf das dritte und blickte verdutzt hoch. »Welches dritte Rätsel? Ich erinnere mich nicht…«
»Das früheste. Als du vier warst. Und in die Vorratskammer deiner Mütter eingebrochen bist.«
Maia starrte sie verwundert an. »Woher weißt du…?«
»Das laß nur meine Sorge sein. Bitte mach weiter. Dieser Test mißt die spontane Reaktion unter Druck, nicht das Gedächtnis oder die Vollständigkeit deines Erinnerungsvermögens.«
Maia hatte den Verdacht, daß sich hinter ihren Fachausdrücken etwas verbarg, irgendeine versteckte Bedeutung, aber sie entging ihr. Seufzend beugte sie sich über das Papier und schrieb auf, was sie von jenem Tag noch wußte, als der quietschende Speiseaufzug sie und ihre Schwester ein letztes Mal in die Katakomben unter den Lamai-Küchen trug.
In der Hand hatte Maia einen Zettel mit einer Skizze für den letzten Versuch, das hartnäckige Schloß zu öffnen, Leie hielt die Laterne, während sie auf die Steinfiguren drückte – umeinander gewundene Schlangen, Sterne und andere Symbole –, die eine nach der anderen mit einem klickenden Geräusch einrasteten. Beide Zwillinge hielten den Atem an, als die eisenbeschlagene Tür endlich zur Seite glitt. Und was sahen sie?
Knochen. Reihe um Reihe ordentlich aufgestapelter Knochen. Oberschenkelknochen. Schienbeinknochen.
Schlüsselbeinknochen. Grinsende Totenschädel. Maia prallte zurück, und Leies Entsetzensschrei war so laut, daß die Weinregale hinter ihnen klapperten. Zitternd, mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen betraten sie die Geheimkammer und starrten entsetzt auf Generationen verblichener Ahninnen… von denen jede genetisch gesehen ihre Mutter gewesen war. Das Beinhaus war kühl und unheimlich still. Dankbar registrierte Maia, daß wenigstens keine vollständigen Skelette zu sehen waren. Dank ihrer sprichwörtlichen Ordnungsliebe hatten die Lamai die Knochen ihrer Vorfahren nach Kategorien gestapelt, und so hatte man wenigstens nicht dauernd das gruselige Gefühl, sie könnten plötzlich lebendig werden und sich an den neugierigen Kindern
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