Die Company
Rom,
Donnerstag, 28. September 1978
H
och über der Stadt trieben Wolken rasch vor dem Vollmond dahin. Auf einer menschenleeren Straße, die entlang einer langen Mauer verlief, hielt ein verdrecktes gelbes Fiat-Minitaxi vor der Porta Angelica und stellte Scheinwerfer und Motor ab. Eine schlanke Gestalt im knöchellangen Habit der Dominikaner stieg aus dem Fond. Der Mann war in der Stiefelspitze Italiens aufgewachsen, und die obskuren Organisationen, die seine Dienste von Zeit zu Zeit in Anspruch nahmen, nannten ihn den Kalabrier. Als junger Bursche war der Kalabrier ein schöner junger Mann mit den engelsgleichen Gesichtszügen eines Renaissance- Castrato gewesen und mehrere Jahre an einer Zirkusschule als Seiltänzer ausgebildet worden. Ein kaputter Knöchel nach einem Sturz vom Hochseil hatte jedoch seine Artistenkarriere beendet. Jetzt bewegte er sich trotz eines deutlich wahrnehmbaren Hinkens noch immer mit der katzenhaften Geschmeidigkeit eines Seiltänzers. Von den Hügeln über dem Tiber schlug eine Kirchenglocke die halbe Stunde. Der Kalabrier warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr, dann ging er die fünfzig Meter der Mauer entlang bis zu einer schweren Holztür. Er zog sich ein Paar Chirurgenhandschuhe aus Latex über und kratzte sacht am Lieferanteneingang. Sofort wurde innen ein schwerer Riegel zurückgestoßen, und die kleine blaue Tür, die in die größeren Türflügel eingelassen war, öffnete sich gerade so weit, dass er hindurchschlüpfen konnte. Ein blasser Mann mittleren Alters, der Zivil trug, aber die kerzengerade Haltung eines Offiziers hatte, hielt fünf Finger hoch und deutete mit dem Kinn auf das einzige Fenster des Wachgebäudes, aus dem Licht fiel. Der Kalabrier nickte. Der Offizier ging vor ihm die Einfahrt entlang, und beide duckten sich, als sie an dem erleuchteten Fenster vorbeikamen. Der Kalabrier spähte über das Fenstersims; zwei junge, uniformierte Soldaten spielten im Bereitschaftsraum Karten, drei andere dösten in Sesseln vor sich hin. Automatikwaffen und Patronengurte lagen auf dem Tisch neben einem kleinen Kühlschrank.
Der Kalabrier folgte dem Offizier in Zivil. Sie gingen vorbei am »Institut für religiöse Werke« bis zu einem Dienstboteneingang auf der Rückseite des weitläufigen Palazzo. Der Offizier holte einen großen Nachschlüssel aus der Jackentasche und schob ihn ins Schloss. Die Tür sprang mit einem Klicken auf. Er ließ einen zweiten Nachschlüssel in die offene Hand des Kalabriers fallen. »Der ist für die Tür an der Treppe«, flüsterte er. Er sprach italienisch mit Schweizer Akzent. »Den Schlüssel für die Wohnung zu besorgen hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt.«
»Macht nichts«, sagte der Kalabrier. »Dann knack ich das Schloss eben. Was ist mit der Milch? Und mit der Alarmanlage?«
»Die Milch ist gebracht worden. Sie werden ja sehen, ob sie getrunken wurde. Und die Verbindung der drei Türen zur Kontrollanzeige im Bereitschaftsraum der Wachen habe ich abgeklemmt.«
Als der Kalabrier schon fast durch die Tür war, fasste der Offizier ihn am Arm. »Sie haben zwölf Minuten, bevor die Wachen ihren nächsten Rundgang machen.«
»Ich kann die Zeit verlängern oder verkürzen«, entgegnete der Kalabrier und blickte zum Mond hinauf. »Zwölf mit Sorgfalt verbrachte Minuten können einem wie eine Ewigkeit vorkommen.«
Mit diesen Worten verschwand er im Gebäude.
Er kannte den Grundriss des Palazzo so genau wie die Lebenslinien in seiner Hand. Er raffte das Habit und nahm drei Stufen auf einmal, als er die enge Dienstbotentreppe zum zweiten Stock emporstieg. Oben angekommen, öffnete er die Tür mit dem Nachschlüssel und gelangte auf einen schwach erhellten Gang. Ein violetter Läufer, verblichen und in der Mitte abgetreten, erstreckte sich vom hinteren Ende des Gangs bis zu dem kleinen Tisch gegenüber dem altertümlichen Fahrstuhl und der Haupttreppe gleich daneben. Geräuschlos bewegte sich der Kalabrier den Gang hinunter auf den Tisch zu. Eine rundliche Nonne saß zusammengesunken am Tisch, den Kopf genau im Lichtkreis einer silbernen Schreibtischlampe. In einem leeren Glas neben dem altmodischen Telefon war noch ein kleiner Rest der Milch, die mit einem Betäubungsmittel versetzt worden war.
Aus einer der tiefen Taschen seines Habits zog der Kalabrier ein identisches Glas mit einem angetrockneten Rest nicht kontaminierter Milch und tauschte es gegen das Glas der Nonne aus. Dann ging er den Gang wieder zurück, wobei er
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