0529 - Der Würgeadler
Der alte Jacques Grenier schüttelte den Kopf. Wohin sein Blick auch reichte, er sah nur eines.
Schnee!
Schnee in Massen, ein weißes Leichentuch, das alles bedeckte.
Riesenhände schienen den Schnee gegen die Hänge geschleudert zu haben. Dabei hatten es die Hände auch nicht versäumt, Schnee über die Häuser zu streuen und somit ganze Ortschaften von der Außenwelt abzuschneiden.
Sosehr die Wintersportler den Schnee liebten, so sehr konnte er zu einer Gefahr werden, wenn er in diesen Mengen fiel wie im März des Jahres 1988.
Zuvor hatte es kaum geschneit. Ein Jahreswechsel ohne Schnee, wann hatte es den schon einmal gegeben?
Jacques Grenier jedenfalls konnte sich nicht daran erinnern, und auch nicht an die gewaltigen Massen, die in den letzten vier Tagen aus den Wolken gefallen waren.
Jetzt hatte es aufgehört zu schneien. Aber der Himmel zeigte eine graue Farbe, hinter der die Sonne wie eine an den Rändern verschwimmende Apfelsine stand. Sie hatte nicht die Kraft, die weiße Pracht wegzutauen.
Wenn Grenier an das Tauwetter dachte, bekam er ebenfalls Magendrücken. Getauter Schnee bedeutete Wasser, und dieses Wasser wiederum mußte abfließen. Es würde sich sammeln, in die zahlreichen Gebirgsbäche fließen und weiter in Flüsse. Die würden dann über die Ufer treten. Eine Katastrophe stand bevor.
Dieses letzte Aufbäumen des Winters war furchtbar, und der Beginn des Frühlings würde es ebenfalls sein.
Das Wohnhaus der Greniers lag am Hang. Es war, wie viele andere Häuser auch, völlig eingeschneit. Nur an der aus dunklem Holz bestehenden Frontseite hatten die Bewohner den Schnee zur Seite geschaufelt, so daß die Fenster freilagen und auch die Eingangstür zu sehen war. So konnten sie wenigstens das Haus verlassen.
Die Familie packte gemeinsam mit an. Das Dach befand sich in keinem guten Zustand mehr. Der Schnee drückte, deshalb mußte er vom Dach geschaufelt werden.
Die vor den Dachrinnen befestigten Schneestopper aus Metall hatten sich längst unter dem Druck verbogen.
Auf dem Dach stand Paul Grenier, der vierzigjährige Sohn des alten Jacques. Er hatte die breite Schaufel mit hochgenommen, stach sie in die weißen Massen und beförderte sie in Richtung Dachrinne, über die sie nach unten fielen.
Jacques hatte die Aufgabe übernommen, den heruntergeschaufelten Schnee vom Eingang des Hauses wegzuräumen. Pierre, der Enkel, fünfzehn Jahre jung, half ebenfalls mit.
Eigentlich hätte er in der Schule sein müssen, bei diesen Wetterverhältnissen aber fiel sie aus.
»Vorsicht!« rief Paul.
Enkel und Großvater sprangen zur Seite. Sie sahen, wie die Masse aus Schnee und Eis rutschte. Am Boden türmte sie die Schneewand weiter auf.
»Kommt noch was?« rief Jacques.
»Nein.«
»Bon, dann schaufeln wir ihn weg!« Jacques nickte seinem Enkel zu. »Pack mit an, Pierre.«
Der zog einen Flunsch, machte sich aber an die Arbeit. Jeder mußte bei einer solchen Notlage mit anpacken.
Der Großvater bewies, wieviel Kraft noch in seinen Armen steckte. Mehr jedenfalls als in den Muskeln des Enkels, der sich permanent über die Arbeit beschwerte.
»Du hättest mal früher arbeiten und leben müssen«, sagte der älteste Grenier. »Das hätte dir wirklich gutgetan.«
»Heute leben wir in einer anderen Zeit.«
»Ja, leider.«
Ihr Gespräch versickerte, weil die Arbeit eben zu anstrengend war. Sie schaufelten die Schneemassen nach links, wo sich bereits ein Berg gebildet hatte. Er bestand aus Klumpen von Eis, Firn und Schnee.
Paul Grenier war vom Dach geklettert. An der Seite sackte er bis zu den Hüften im Schnee ein. Darüber fluchte er. Mit wilden Bewegungen befreite er sich und ging zu seinem Vater, um ihm bei der Arbeit zu helfen. Pierre hielt sich mit einem Kommentar zurück. Er wollte nicht noch weiteren Ärger einheimsen.
Paul ging auf seinen Vater zu. »Laß mal gut sein, ich mache hier weiter.«
Jacques Grenier wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. »Merci. Ich wollte mich auch noch umsehen und nach dem Vieh schauen.«
»Tu das.«
Die zehn Kühe der Greniers standen in einem Stall am Ende des Orts, zusammen mit Tieren, die Nachbarn gehörten. Für einen eigenen Stall war ihr Grundstück nicht groß genug. Zudem behinderte die Hanglage einen größeren Anbau.
Die Bewohner des Dorfes hatten gemeinsam mit angepackt und in mühevoller Arbeit durch den tiefen Schnee einen Weg freigeschaufelt, der zu beiden Seiten von hohen, weißen Eiswänden flankiert wurde, die im Sonnenlicht
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