Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Halle folgte, strömten in den Spiegeln zu beiden Seiten tausend Qarköniginnen und tausend sterbliche Prinzen zum Ausgang. Manche der Barricks drehten sich sogar zu ihm um. Einige der Gesichter hatten keinerlei Ähnlichkeit mit seinem, aber viel verstörender fand er den Ausdruck auf jenen, die ihm am meisten glichen.
    Sie betraten den großen Raum jenseits der Tür der Spiegelhalle, und dort drängten sich Zwielichtler von hunderterlei Gestalt, Erscheinungen, die Barricks Augen gänzlich fremd waren und die er irgendwie dennoch erkannte —
Rotkappen, Tunnelhauer, Trolle, so lang wie Bäume —,
und er wusste sogar, dass der Raum, in dem sie warteten, die
Kammer des Wintermahls
hieß. Als die Königin, dicht gefolgt von Barrick, an ihnen vorbeiging, schlossen sie sich ihr alle an, die weinenden Frauen und die kleinen Männer mit den Tieraugen, die geflügelten Schatten und die Wesen mit Gesichtern wie unpolierter Stein, und die Prozession wurde immer breiter und länger, bis sie die Gänge ausfüllte und sich hinter ihnen weiter erstreckte, als Barrick sehen konnte, ein Strom von unheimlichem Leben.
    Er folgte Saqri durch ein Labyrinth unbekannter Korridore, aber Namen und Begriffe schienen durch die Luft zu gleiten wie Spiegelungen über einen stillen Teich —
Ruheplatz des Traurigen Flötenspielers, der Stöhnende Söller, der Ort, wo sich Vorsicht und Schwimmvogel trennten.
Schließlich traten sie ins Freie hinaus und gingen durch einen Garten von Steinfiguren, so verkrümmt und verrenkt, als schliefen sie einen unruhigen Schlaf. Regen fiel Barrick ins Gesicht und durchnässte sein Haar. Dieses Gefühl war so altbekannt, dass für einen Moment alle anderen Gedanken verschwanden und er einfach nur wieder er selbst war, der Barrick, der er immer gewesen war, vor dem Überschreiten der Schattengrenze, vor den Schläfern, vor Ynnirs Kuss.
    Wer werde ich jetzt?
Er fürchtete sich nicht mehr so wie vorhin noch, aber nicht um das Verlorene zu trauern, war schwer.
Dieser Mensch werde ich nie wieder sein.
    Am anderen Ende des Gartens —
Käfers wachender Garten,
flüsterte es in seinem Denken,
wo Regendiener den König der Vögel gefangen hielt und ihm sagte, wie die Welt enden würde —
traten sie in einen großen Raum. Der war dunkel bis auf einen Ring von Kerzen am Boden und leer bis auf die Kerzen und den Leichnam, der auf einem flachen Stein in der Mitte des Rings lag.
    Barrick schossen Tränen in die Augen. Wer das war, brauchte ihm niemand zu sagen. Jetzt vernebelte der Flüsterchor in seinem Kopf nur die Klarheit seiner Gefühle. Der, der da vor ihm lag, war an einem einzigen Tag für ihn so etwas wie ein Vater geworden — nein, mehr als das: Von Ynnir hatte er nichts erfahren als Nachsicht und Güte.
    Die Königin blickte auf den Leichnam ihres Gemahls hinab. Die Augenbinde war weg: Ynnirs Augen waren geschlossen, als schliefe er. Barrick tat ein paar Schritte auf ihn zu und sank dann langsam in die Knie, außerstande, die Last des gegenwärtigen Augenblicks noch länger zu tragen.
    Sohn des Ersten Steins, der Springende Hirsch, Schlauer Schwächling ...
Der Flüsterchor war wie das Gurren von Tauben.
Verräter! — nein, Krummlings Herzenskind ...!
    Schaut mich an,
sagte eine weitere Stimme, fern und seufzend.
So klein. So verloren im Augenblick!
    Erschrocken sah Barrick sich um. »Ynnir?« Es war die Stimme des Königs gewesen, da war sich Barrick ganz sicher.
Verlasst mich nicht!
Er warf seinen Gedanken dem Gedanken des Königs hinterher. Die anderen Erinnerungen, Stimmen, Geister, diese zahllosen Stäubchen und Fetzchen von Verstehen, die ihn jetzt verfolgten, zerstoben vor seiner Frage, doch was es auch immer von dem realen Ynnir gewesen sein mochte — es war wieder verschwunden.
    »Alter Narr«, sagte die Königin leise, während sie auf das bleiche, starre Gesicht des Königs hinabblickte. »Wunderbarer, blinder alter Narr.«

    Die Beisetzung des Herrn der Winde und Gedanken zog an Barricks Sinnen vorüber wie ein angeschwollener, über die Ufer tretender Fluss, in dessen Strömung dicht an dicht Dinge trieben, die nicht mehr erkennbar waren. In jenem überfüllten, dunklen, von Flüstern erfüllten Raum versammelten sich Gestalten um den Leichnam des Königs, weinten, sangen oder machten zum Teil auch Geräusche und Gesten, die Barrick mit keiner menschlichen Emotion in Verbindung bringen konnte, und zerstreuten sich dann nach einer gewissen Zeit wieder. Manche dieser Trauergesten waren so komplex

Weitere Kostenlose Bücher