Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
wie Theaterstücke oder Tempelriten und schienen Stunden zu dauern, während andere kaum mehr als ein kurzes Flügelflattern über Ynnirs stummer Gestalt waren. Barrick hörte Ansprachen, von denen er jedes Wort verstand, die aber trotzdem für ihn keinerlei Sinn ergaben. Andere Trauernde standen neben dem Leichnam des Königs und gaben nur einen einzigen, unvertrauten Laut von sich, der sich in Barricks Kopf öffnete wie ein ganzes Buch, wie eine jener Geschichten der Waisennachtsbarden, die von Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen dauerten.
    Und es kamen immer noch mehr.
    Ratten, tausend oder mehr, ein lebender samtener Teppich, der Ynnir umkreiste und dann wieder verschwand, weinende Schatten, Männer mit glutroten Augen, sogar ein wunderschönes Mädchen aus Besenstielen und Spinnweben, das mit einer Stimme wie arbeitendes Wandstroh für den toten König sang — sie alle kamen, um Abschied zu nehmen. Und im Lauf der Stunden, während Wind und Regen draußen auf die Dächer peitschten und die Flammen der Lampen in dem Aufbahrungsraum blakten, verstand Barrick allmählich, nicht die ganze Tiefe dessen, was in diesem Raum zum Ausdruck kam, aber doch ansatzweise, was es hieß, einer von diesen Leuten zu sein. Er sah, dass die Prozession mehr war als die Summe der Einzelnen und dessen, was sie sagten oder taten, um ihren Schmerz zu zeigen. Sie war vielmehr eine Ansammlung von Formen und Lauten in der Zeit, jede und jeder für sich und doch mit dem Ganzen verbunden wie ein Buchstabe eines Worts oder ein Wort einer Geschichte. Die Zeit selbst war das Medium, und irgendwie — dies war nur ein Schimmer des Verstehens, wie ein winziger Fisch in einem Bach, der gänzlich verschwindet, sobald man danach greift —, irgendwie lebte dieses Volk, lebten die Qar auf eine Art und Weise in der Zeit, wie es Barricks sterbliche Art nicht tat. Sie waren gleichzeitig darin und außerhalb. Sie trauerten, aber gleichzeitig sagten sie,
Das ist Trauern, so soll es sein. Dies ist der Tanz, und das sind die Schritte.
Mehr daraus zu machen oder auch weniger hieße, es aus der Zeit zu heben, wie man einen Fisch aus einem Fluss hebt. Der Fisch würde sterben. Der Fluss wäre weniger schön. Sonst würde sich nichts ändern.
    Schließlich flackerten die Kerzen und erloschen. Neue Kerzen wurden entzündet, und auch das schien nur ein weiterer Teil des Tanzes, eine weitere Biegung des Flusses. Barrick ließ es alles über sich hinweg- und durch sich hindurchfließen. Manchmal wusste er, schon ehe jemand sprach, sang oder seinen stummen Tribut zollte, wer das war und was er mitbrachte. Dann wieder war er in der Fremdheit des Ganzen völlig verloren, so wie als Kind, wenn er den Wind um die Schornsteine und durch die Dachziegel des Palasts hatte pfeifen hören, überwältigt von dem Gefühl, dass darin Bedeutung lag, die er nie erfassen würde, von der ewigen menschlichen Frustration, so klein zu sein gegenüber der gleichgültigen Weite der Nacht.
    Aus einem Dunkel, in dem die Gesänge und Schatten versiegten, tauchte er schließlich auf. Der große Raum war leer. Der Leichnam des Königs war verschwunden. Nur die Königin war noch da.
    »Wo ... wo ist er ...?«
    Saciri stand so reglos da wie eine Statue und blickte auf das leere Podest. »Seine Hülle ... wird zurückgegeben. Und was Ynnirs Wahrheit anbelangt ... er hat sich dafür entschieden, seine letzte Kraft hinzugeben, um mich zu erwecken, und jetzt sind er und seine Vorfahren für uns endgültig verloren.«
    Barrick konnte nur schweigend dastehen, weil er es nicht verstand.
    »Und so sind wir dem Ende aller Dinge einen Schritt näher«, sagte sie, jetzt ihm zugewandt, auch wenn sie ihn kaum zu sehen schien und es klang, als spräche sie zu sich selbst. »Was wird dein Platz darin sein, Sterblichenmann? Was steht im Buch für dich geschrieben? Vielleicht ist dir ja zugedacht, einen Schatten des Gedächtnisses unseres Volkes am Leben zu erhalten, damit, auch wenn wir ganz verschwinden, noch immer eine vage, wirre Erinnerung die Sieger beunruhigt. Beunruhigen wir dich? Hast du eine Ahnung, was du zerstört hast?«
    So heiß, so hell — wie ein Feuer!,
flüsterte eine Stimme in ihm, aber Barrick war zu wütend, um ihr Beachtung zu schenken.
    »Ich habe gar nichts zerstört«, erklärte er der Königin. »Was meine Vorväter auch immer getan haben, nichts davon war mein Tun — ja, es ist auch mein Fluch? Und ich bin nicht aus eigener Entscheidung hierhergekommen — ich wurde geschickt, von

Weitere Kostenlose Bücher