Die Dämonen ruhen nicht
eine rote Meldung, also einen dringenden Fahndungsaufruf, verbreitet. Gesucht wird ein flüchtiger Verbrecher namens Rocco Caggiano, der in Italien und Frankreich mehrere Morde begangen haben soll. Rocco ahnt nicht, dass Lucy selbst die Information an die Zentralstelle von Interpol in Washington geschickt hat. Ihr glaubhafter Hinweis wurde gründlich überprüft, bevor man ihn durch den Cyberspace an die Interpol-Zentrale in Lyon, Frankreich, weiterleitete, von wo aus man die rote Meldung an die Gesetzeshüter auf der ganzen Welt herausgab. Die gesamte Prozedur hat nur wenige Stunden in Anspruch genommen.
Rocco kennt Lucy nicht, obwohl er weiß, wer sie ist. Sie hingegen ist bestens über ihn im Bilde, auch wenn sie ihn ebenfalls nie persönlich getroffen hat. Als sie sich nun setzt, den Sicherheitsgurt anlegt und die Concorde ihre Triebwerke von Rolls-Royce anlässt, kann sie es kaum erwarten, Rocco Caggiano zu sehen. Ihre Ungeduld hat den Grund in einer schwelenden Wut, die sich bis zu ihrer Ankunft in Osteuropa in Nervosität und Furcht verwandelt haben wird.
7
»Ich hoffe stark, dass Sie sich nicht so miserabel fühlen wie ich«, meint Nic zu Scarpetta.
Sie sitzen im Salon von Scarpettas Suite im Marriott und warten auf den Zimmerservice. Obwohl es erst neun Uhr morgens ist, hat Nic sich schon zwei Mal nach Scarpettas Befinden erkundigt. Dass sie solche Banalitäten überhaupt von sich gibt, liegt zum großen Teil daran, dass sie sich geschmeichelt fühlt und ihr Glück kaum fassen kann, dass die Frau, die sie so sehr bewundert, sie zum Frühstück eingeladen hat.
Warum ich? Diese Frage rollt in Nics Kopf herum wie eine Bingokugel. Vielleicht aus Mitleid.
»Es ist mir schon mal besser gegangen«, erwidert Scarpetta schmunzelnd.
»Popeye und sein Wein. Aber er hatte schon schlimmeres Gift auf Lager als das von gestern.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas noch Schlimmeres gibt«, erwidert Scarpetta, als es an der Tür klopft. »Bis auf echtes Gift natürlich. Moment, bitte.«
Sie steht vom Sofa auf. Der Zimmerservice ist da und rollt ein Tischchen herein. Scarpetta unterschreibt die Rechnung und gibt ein Trinkgeld in bar. Nic fällt auf, wie großzügig sie ist.
»Popeyes Zimmer - Nummer eins-null-sechs - ist die Partyzone«, erklärt Nic. »Man kann einfach abends mit einem Sixpack reinspazieren und das Bier in der Badewanne deponieren. Ab zwanzig Uhr macht er eigentlich nichts anderes mehr, als Zehn-Kilo-Beutel mit Eiswürfeln heranzuschaffen. Gut, dass er im Parterre wohnt. Ich war einmal dabei.«»Nur einmal in zehn Wochen?« Scarpetta mustert sie forschend.
Wenn Nic wieder in Louisiana ist, wird sie es mit den vermutlich grausigsten Mordfällen ihres bisherigen Lebens zu tun bekommen. Bis jetzt hat sie kein Wort darüber verloren, und Scarpetta macht sich Sorgen um sie.
»Als ich an der Johns Hopkins Universität Medizin studiert habe«, beginnt Scarpetta, während sie Kaffee einschenkt, »war ich eine von drei Frauen in meinem Jahrgang. Falls es dort irgendwann mal eine Badewanne voller Bier gegeben haben sollte, habe ich nie davon erfahren. Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«
»Mit viel Sahne und Zucker. Aber Sie brauchen mich nicht zu bedienen, während ich nur rumsitze.« Nic springt von ihrem Ohrensessel auf.
»Behalten Sie ruhig Platz.« Scarpetta stellt Nics Kaffee auf den Tisch. »Es gibt Croissants und ziemlich ungenießbar aussehende Bagels. Greifen Sie zu.«
»Als Sie Medizin studiert haben, waren Sie wenigstens nicht aus einem Provinznest und keine ...« Beinahe hätte Nic Landpomeranze gesagt. »Miami ist schließlich etwas ganz anderes als ein Dorf in Louisiana. Alle anderen Teilnehmer dieses Lehrgangs kommen aus der Großstadt.«
Sie blickt auf Scarpettas Kaffeetasse und beobachtet, wie diese sie ohne das leiseste Zittern an die Lippen führt. Scarpetta trinkt ihren Kaffee schwarz und scheint keinen Appetit zu haben.
»Als mein Vorgesetzter sagte, unserer Dienststelle sei ein voll finanzierter Platz an der Academy angeboten worden, und mich fragte, ob ich Interesse hätte, war ich fassungslos«, spricht Nic weiter, obwohl sie befürchtet, sie könnte zu viel über sich selbst reden. »Ich konnte es kaum glauben und musste Himmel und Erde in Bewegung setzen, um mich knapp drei Monate von zu Hause loszueisen. Dann kam ich hier in Knoxville anund stellte fest, dass ich Reba als Zimmergenossin hatte. Ich kann nicht behaupten, dass das ein Zuckerschlecken war, doch ich will
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