Woelfin des Lichts
Sara fü hlte ihren Lippenstift zwischen den Fingern und schob ihn unwirsch zur Seite. Endlich spürte sie den kalten Gegenstand, hörte mit ihren überaus guten Ohren das leise Klimpern des Schlüsselbundes und beförderte ihn zutage. Bevor sich die Tür vollständig öffnete, schlüpfte sie hindurch und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen. Aufatmend lehnte sie sich gegen die schwere Eichentür ihres neuen Zuhauses, das sie erst vor wenigen Wochen bezogen hatte.
In diesem winzigen Dorf, das, wenn man es genau nahm, nur aus einer Ansammlung windschiefer Cottages bestand, fühlte sie sich sicher und geborgen.
Sie stieß sich von der Tür ab und folgte dem silbernen Lichtstrahl, der durch das Oberfenster der Eingangstür fiel, bis in ihr kleines Badezimmer. Bereits unterwegs e ntledigte sie sich ihrer Pumps und des dunkelblauen Blazers ihres Kostüms. Den ganzen Nachmittag über war sie fahrig gewesen und erleichtert, als sie endlich Feierabend machen konnte. Ihr Chef hatte sie verständnisvoll angesehen, als ob er wüsste, wie sie sich an solchen Tagen und vor allem Nächten fühlte, in denen sie den überwältigenden Wunsch nach Freiheit verspürte.
Doch zuvor würde sie ein entspannendes Bad genießen und den Mief der Stadt so gut es ging aus ihren langen schwarzen Haaren entfernen. Sie beugte sich zum Wasserhahn vor, drehte auf heiß und beobachtete, wie das Wasser in die Badewanne strömte. Das Licht des langsam aufgehenden Mondes hatte freien Zugang durch das Fenster und tauchte den kleinen Raum in einen weichen Schimmer. Mit einer geschmeidigen Bewegung streifte Sara ihre restliche Kleidung ab und stieg über den Wannenrand hinweg in das dampfende Wasser. Wie immer verzichtete sie auf einen Badezusatz, sie mochte den oftmals unterschwelligen, beißenden Geruch nicht, der ihr das unangenehme Gefühl gab ihre Nase wäre verstopft. Kurz tauchte sie unter, lehnte sich mit dem Kopf gegen den Rand und schloss die Augen.
Da das Bad im hinteren Teil des Cottages lag, bemerkte sie nicht das vorsichtige Herantasten in der Dunkelheit außerhalb der Mauern. Etwas schlich an der Vorderseite entlang und verschwand seitlich den Hang hinab in Richtung des düsteren Waldes.
Kurz darauf stellten sich ihr die feinen Härchen an den Armen auf. Der Zeitpunkt, den sie schon den ganzen Tag herbeisehnte, kam schnelle r als erwartet. Sara stieg aus der Wanne und konzentrierte sich auf ihr Vorhaben. Ein Sprühregen an Wassertropfen fiel auf die hellen Fliesen und spritzte gegen die gekachelten Wände. Das stetige Tropfen des Wasserhahns nahm an Lautstärke zu und hallte in dem kleinen Raum wider, als würde sie sich nicht in einem Badezimmer, sondern in einer riesigen Tropfsteinhöhle befinden. Für einen Augenblick spürte sie anstelle von Hitze einen kühlen Luftzug. Sara war bereit für einen ihrer geliebten nächtlichen Ausflüge.
Die schwarze Wölfin huschte durch die angelehnte Hintertür hinaus in den verwilderten Garten. Tief sog sie die frische Nachtluft ein, jauchzte leise auf und sprang wie ein übermütiger Welpe durch das hohe Gras. Sie besann sich und schaute sich argwöhnisch in alle Richtungen um. Nichts deutete auf ungewöhnliche Vorkommnisse hin und doch verspürte sie für einen kurzen Moment drohende Gefahr. Nun etwas vorsichtiger schlüpfte sie unter der niedrigen Hecke hindurch, lief seitlich den Hang hinab, und verschwand im dichten Unterholz. Mit gespitzten Ohren lauschte sie den Geräuschen der Umgebung. Tief in sich spürte sie die ihr vertraute Wildheit, die sie nur allzu oft unterdrücken musste, in dieser Nacht jedoch genoss sie ihre Freiheit in vollen Zügen. Die fließende Bewegung ihrer Muskeln, die sich in ihrer Spannkraft durch ihren ganzen Körper fortsetzten, trieb sie immer weiter voran. Der dunkle Wald verbarg sie vor der restlichen Welt und vermittelte ihr ein tiefes Gefühl der Geborgenheit. Die Vielfalt der Gerüche, die ihr in die Nase stachen, ließen sie mehrmals aufgeregt winseln. Neben dem Findling zu ihrer Rechten roch sie das süße Aroma des Todes, das einigen Grasbüscheln anhaftete und deutlich machte, dass hier vor kurzem ein Fuchs mit seiner Beute vorbeigeschlichen war. Modrige Fäulnis stieg vom weichen Waldboden auf und die Luft trug die Ausdünstungen unzähliger Wildtiere mit sich. Dennoch trottete die Wölfin gemächlich den ausgetretenen Pfad entlang, der sie zu einer kleinen Lichtung führte. Bei ihrem letzten Ausflug hatte sie diesen verborgenen Ort entdeckt und er
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