Die Darwin-Kinder
Hinterkopf.
»Bin um vier Uhr zurück.«
»Ich liebe dich.« Seufzend kuschelte sich Kaye wieder in die Kissen.
Die nächste Station war Stellas Zimmer. Nie verließ er das Haus ohne diesen vorherigen Rundgang, bei dem er die Bilder seiner Frau, seiner Tochter und des Hauses bewusst in sich aufnahm und in seinem Gedächtnis speicherte. So als könne er diesen Augenblick jederzeit wieder abrufen, falls man ihm all dies nehmen sollte – falls dies der Abschied war. Als würde es im Fall des Falles irgendetwas nützen.
Stellas Zimmer war ein einziges Chaos, das verriet, womit sie sich in Ermangelung wirklicher Freundinnen und Freunde beschäftigte. An die Wand über ihrem Bett hatte sie ein Abschiedsfoto jener berühmt-berüchtigten orange-weiß getigerten Familienkatze gehängt. Aus der Holzkiste quollen kleine Stofftiere, deren Knopfaugen im Halbdunkel geheimnisvoll funkelten. Alte Taschenbücher füllten ein kleines Bücherregal aus Kiefernholz, das Mitch und Stella im vergangenen Winter gemeinsam zusammengenagelt hatten.
Stella genoss es, mit ihrem Vater Hand in Hand zu arbeiten, allerdings war Mitch nicht entgangen, dass sie sich mit den Jahren immer weiter voneinander entfernt hatten.
Stella lag auf dem Rücken in einem Bett, das schon seit einem Jahr zu kurz für sie war. Mit elf Jahren war sie fast so groß wie Kaye und mit der schlanken Figur und dem runden Gesicht auf ihre Weise schön. Im Schein der kleinen Nachtlampe schimmerte ihre Haut in blassen Kupfer- und Goldtönen. Ihr Haar war kastanienbraun mit einem Stich ins Rote, von derselben Struktur wie das von Kaye und nicht viel länger als das ihrer Mutter.
Ihre Familie hatte sich zu einem Dreieck entwickelt, das immer noch starken Zusammenhalt hatte, obwohl die drei Seiten Monat für Monat weiter auseinander strebten. Weder Mitch noch Kaye konnten Stella das geben, was sie wirklich brauchte.
Und einander?
Er blickte auf, um den Sonnenaufgang zu betrachten, der sich durch die duftigen weißen Vorhänge vor Stellas Fenster als orangefarbene Linie am Himmel abzeichnete. Gestern Abend hatte Stella, deren Wangen vor Zorn mit Flecken übersät waren, wissen wollen, wann sie ihr erlauben würden, das Haus auf eigene Faust und ohne Make-up zu verlassen, damit sie sich mit Gleichaltrigen treffen konnte. Mit Kindern, die so waren wie sie selbst. Seit ihrer letzten ,Verabredung zum Spielen’ waren schon zwei Jahre vergangen.
Kaye hatte mit dem häuslichen Unterricht Wunder gewirkt, aber Stella hatte gestern Abend immer wieder und mit wachsender Heftigkeit betont: »Ich bin nicht so wie ihr!« Zum
ersten Mal hatte Stella offiziell verkündet: »Ich bin kein menschliches Wesen!«
Aber das stimmte natürlich nicht. Nur Dummköpfe dachten so etwas. Dummköpfe, Scheusale – und ihre Tochter.
Mitch küsste Stella auf die Stirn, ohne dass sie aufwachte.
Ihre Haut war warm. Wenn Stella schlief, roch sie nach ihren Träumen. Jetzt roch sie leicht salzig – nach Tränen und Traurigkeit.
»Ich muss los«, murmelte er. Als Wellen goldener Punkte über Stellas Wangen liefen, lächelte Mitch.
Selbst im Schlaf konnte sich seine Tochter von ihm verabschieden.
2
Zentrum zur Erforschung alter Viren, United States Army Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID),
Fort Detrick, Maryland
»Es sind Menschen ums Leben gekommen, Christopher«, sagte Marian Freedman. »Reicht das nicht als Rechtfertigung dafür, dass wir auf der Hut sein und uns sogar ein wenig verrückt verhalten müssen?«
Auf sein gutes Bein gestützt, humpelte Christopher Dicken neben ihr her und starrte auf die Stahltür am Ende des betonierten Ganges. Die Dienstmarke, die ihn als Mitarbeiter des Nationalen Krebsforschungsinstituts, des NCI, auswies, steckte immer noch an der Brusttasche seines Jacketts. Er hielt einen großen Blumenstrauß mit Rosen und Lilien in der Hand.
Die Auseinandersetzung zwischen Marian Freedman und ihm hatte schon an der Rezeption angefangen und sich den ganzen Weg über, durch vier Sicherheitskontrollen hindurch, fortgesetzt.
»Schon seit zehn Jahren ist kein Fall von Shiver mehr diagnostiziert worden«, sagte er. »Und noch nie ist jemand aufgrund des Kontakts mit den Kindern erkrankt. Wenn man sie isoliert, hat das nicht biologische, sondern politische Gründe.«
Marian griff nach seinem Tagesausweis und zog ihn durch den Scanner. Gleich darauf öffnete sich die Stahltür und gab den Blick auf ein Netz von waagerechten Zugangsröhren aus
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