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Die Delegation

Die Delegation

Titel: Die Delegation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Erler
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Energien stehen bereit, uns mit ungeahnten Geschwindigkeiten durch das All zu tragen – und Tausende von Jahren vergehen wie ein Tag.«

 
79
 
    Noch Rolle zwölf:
    Ein entschwundenes Zitat – Deutschunterricht vor vierzig Jahren? Oder Inspiration – eine poetische Anwandlung. Estrella ist stehengeblieben, rezitiert mit leiser Stimme:
    »Und manchesmal – manchesmal kommt er herunter – von den Bergen herunter – der Wind und betäubt uns – und es ist der Duft, der Duft von Millionen Blüten …« Resignation.
    Roczinski wendet sich ab, geht zum Tor.
    Aber Estrella weicht nun nicht mehr von seiner Seite.
     
    Roczinski schreibt:
     
    »Aggression, Zerstörung, Gewalt – das ist unsere Moral«, sagt Estrella. »Und wir tragen sie hinaus in das Universum, das wir ›erobern‹ wollen.«
    »Wer ist gefährlicher«, fragt Estrella, »der Cholerabazillus für uns? Oder wir, die Menschen dieser Erde, für den zivilisierten Kosmos?
    Was heißt ›Recht auf Leben‹?« – fragt Estrella. »Auch der Cholerabazillus hat ein Recht auf Leben. Wir haben versucht, ihn auszurotten. Sind wir im Recht?
    Das höhere Prinzip entscheidet«, sagt Estrella, »immer und überall!
    Und wir sollten uns vorsehen, bei unserem Vorstoß ins All unter dem Zeichen der Gewalt …«
     
    Noch Rolle zwölf:
     
    Mittagsläuten. Nervöses Gebimmel vom Dach. Die Tauben flattern auf – Unruhe. Der Blütensammler kommt, sie kommen alle, diese schweigenden Gestalten, sie streben zum Tor. Das Gitter zum Kreuzgang öffnet sich.
    Estrella bleibt stehen, nimmt Roczinski am Arm, hält ihn zurück:
    »Siehst du, mein Freund – das ist ihre Moral: Wenn die Götter töten, opfern sie einen der Ihren. Du, mein Freund, hast ihn begraben – bleibst du zum Essen?« Roczinski verneint. Abschied.
    Roczinski greift nach seinem Gerät, draußen auf der Brüstung, verläßt den Kreuzgang, geht durch die Halle, das Eichentor, den Gang entlang zwischen den hohen Mauern. Gebrochene Farben – Gelb und Blau. Am Ende des Ganges ein riesiges Kreuz aus rohen Balken, angeschmiedet an der gekalkten Wand.
    Roczinski blickt sich um – sieht die Kamera, die ihm folgt, die immer noch läuft – bleibt stehen – winkt ab:
    »Halt – ausschalten – stop – termino!« Das Bild reißt ab – unvermittelt – schwarz.
     
    Roczinski schreibt:
     
    Estrella sagt: »Es ist die Angst. Sie sucht Hilfe. Hilfe, die die Erde nicht gewährt. Hilfe und Hoffnung – Zeichen am Himmel.
    Wir erwarten das Heil, die Botschaft der Wissenden, den Frieden, das Glück – aber sie brachten uns kein Heil, keine Botschaft, keine Erlösung.
    Sie waren hier«, sagt Estrella, »aber nichts geschah, was uns aus der Bedrängnis führen könnte. Sie waren hier und sind fort. Sie werden wiederkommen …«
     
    Hier enden – ziemlich abrupt – die Aufzeichnungen Roczinskis.
     
    Der Fall Estrella erscheint uns rätselhaft. Wir haben das Bildmaterial gesehen, den Ton gehört, wir sahen Roczinski kommen und gehen.
    Aber wann hat Estrella das alles zu ihm gesprochen? Wann hat Roczinski das alles, was er da schreibt, von Estrella erfahren?

 
80
 
    Ein unscheinbares Tor in einer endlosen Mauer ohne Putz. Kein Schild, kein Hinweis. Das war ›El Salvador‹, ›Der Erlöser‹.
    Kahle, gelbliche Berghänge ringsherum. Kein Duft von Millionen Blüten wehte hier herunter – nur Staub! Auf der anderen Straßenseite begannen die Slums von Rimac. Lehmziegel und Wellblech, Unrat, Jauche, beißender Qualm der offenen Feuerstellen, Kindergeschrei, Gestank.
    An dieser Mauer, an diesem Tor sind wir schon mehrfach vorbeigefahren auf der Suche nach ›El Salvador‹. Bereits vor unserem Flug hinauf nach Cuzco.
    Ein alter Indio öffnete uns. Er trug die braune Kutte der Franziskaner und hieß uns willkommen. Wir traten ein. Überall sah ich Längstbekanntes: der Gang mit dem Kruzifix aus unbehauenen Balken, diese gebrochenen Farben, Gelb und Blau, die düstere Halle mit ihren unförmigen Säulen, die Kirche, der Kreuzgang, der vergitterte Garten. Wieder flatterten die Tauben auf, schlug die Uhr über dem Dach halb zwölf, übte der Chor seinen Singsang. Aber diesmal sammelte keiner die roten Blüten ein, diese schlaffen, toten Kelche auf den Wegen.
    Die Sonne fiel senkrecht in das tropische Grün, dieses Hofes. Die Patienten saßen im Schatten, regungslos, apathisch, schweigend. Und das Gittertor zu ihnen stand offen. Kein Aufseher ließ sich blicken, kein Wärter, kein Engel mit dem Flammenschwert. Das

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