Die Delegation
einer nicht ganz korrekt ausgefüllten Aufenthaltsbewilligung für zehn Tage. Es fehlte das Hotel!
30
Ein riesiger Drachen kam auf mich zu, funkensprühend, feuerspeiend, und jagte mich in die Flucht.
Aus dem Qualm von knatternden Feuerwerkskörpern, die zwischen meinen Füßen explodierten, tauchten schreckerregende Gestalten auf, schwangen Säbel und krumme Schwerter. Sie trugen die Masken von Chinesen. Aber auch unter den Masken waren die Chinesen Chinesen.
Sie huschten und tanzten und sprangen um den Drachen zum Takt ihrer Musik: Tschinellen und Flöten und auf einem Wagen ein riesiger Gong. Der verfolgte den Drachen, wurde geschoben von dreißig starken Männern, die rhythmische Schreie ausstießen. Auf dem Wagen, zwischen zwei Millionen pastellfarbener Blüten, saßen unbeweglich drei Mädchen mit Pagodenhüten, Papierschlangen wirbelten aus jedem Fenster auf Drachen, Krieger und Mädchen herunter und spannten über die Straße ein dichtes, buntes Spinnennetz. Böller krachten – aber die Menge am Straßenrand stand unbeweglich, furchtlos und starr.
Der verständliche Wunsch, einmal gut zu essen, hatte uns in dieses Inferno verschlagen. Die chinesische Küche ist bekanntlich dreitausend Jahre älter als unsere. Und die Angelsachsen, die diesen Teil des nordamerikanischen Kontinents überwiegend bevölkern, treffen keinerlei Anstalten, diesen Vorsprung einzuholen. Wer ein Abonnement auf Steak, French fries und Erbsen nicht durchzuhalten vermag, muß mit den Minderheiten zu Tisch: ›Hongkong‹ – ›Bologna‹ – ›Alt Heidelberg‹. Aber auch im ›Hongkong‹ war nicht zu erfahren, welche Art von Fest zu welchem Anlaß durch die engen Straßen des Chinesenviertels der Stadt Toronto tobte.
War es ein Umzug der Götter, der Werbefeldzug einer politischen Partei, galt es, einige mißgünstige Dämonen gnädig zu stimmen, feierte man ein Kalenderfest des alten Kaiserreiches oder etwa den Geburtstag des Vorsitzenden Mao? Wir waren nicht würdig, es zu erfahren.
Günter Oldenburg hatte uns eingeladen, ein Kollege aus vergangenen Tagen. Wir hatten uns in den Bavaria-Studios kennengelernt, das war zehn, zwölf Jahre her. Damals waren wir beide Regieassistenten gewesen. Er wanderte dann nach Kanada aus, hierher nach Toronto, und arbeitete als Produktionsleiter für eine progressive Werbefilmgesellschaft. Die Studios lagen in Yorkville, dem Künstlerviertel Torontos. Hübsch bunt ging es zu in der Yorkville Avenue. Die Ramschläden und Boutiquen waren poppig bemalt, die schmalen Treppen vor den Häusern von Hippies bevölkert.
Die träumten von einsamen Höhlen auf Kreta, von einer Straße nach Katmandu, von der Einsamkeit Tibets. Aber warum die Träume über den Atlantik schicken, die Einsamkeit lag vor der Tür! Drei Stunden Autostop nördlich, in North Bay, beginnt der Schienenstrang des Eisbär-Expreß. Der fährt nach Moosonee an der Hudson Bay. Einsamer geht’s nicht. Aber um diese Art Einsamkeit geht es ihnen wohl gar nicht so sehr. Die Suche nach dem Paradies ist ja in Wahrheit eine Flucht vor »den Zwängen der Leistungsgesellschaft«. Und manchmal kann ich sie verstehen. Neuerdings wirbt selbst Ovomaltine mit dem sinnigen Slogan: Um mehr zu leisten.
Warum und wieso und für wen …?
Ich machte mich auf die Suche nach einem meiner zahlreichen Neffen. Der eine lebte in New York und ›leistete mehr‹ für die UNO, der andere mußte hier in Toronto sein. Ich fand ihn nicht unter den Hippies der Yorkville Ave; er stand im Telefonbuch, besaß eine Firma, bewohnte ein Häuschen im Süden der Stadt, fuhr das neueste Chryslermodell, ein sich automatisch schließendes Kabriolett, hatte auch Weib und Kinder – die waren allerdings nicht zu Hause. Ich hätte sie gerne kennengelernt.
»Nicht nötig«, meinte er, »du hast nichts versäumt, lohnt nicht mehr, ich hau ab, bin eigentlich schon weg, das ist nur noch eine Frage von Tagen!«
Auch er war, gewissermaßen, auf der Flucht. Denn der Luxus, der ihn umgab, gehörte ihm schon längst nicht mehr. Er war Spezialist für Kabelfernsehen, hatte riesige Sammelantennen gebaut, die ganze Stadtteile über ein Kabelnetz versorgten, hatte sich selbständig gemacht, und als der Laden florierte, steckten ihn seine Geldgeber in ihre Tasche. Fressen und gefressen werden. Firma und Haus waren weg, der Wagen nur gemietet, die Koffer gepackt. »Meine Frau hat ihren Beruf, die bringt sich und die Kinder schon durch.«
Flucht! Aber der träumte nicht von Indien
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