Total verhext
Dies ist die Scheibenwelt. Durch den Kosmos reist sie, und zwar auf dem Rücken von vier Elefanten, die auf dem Panzer der Himmelsschildkröte Groß-A’Tuin stehen.
Früher einmal galt ein solches Universum als ungewöhnlich, ja sogar unmöglich. Nun, früher war alles viel einfacher.
Im Kosmos wimmelte es überall von Ignoranz, und der Wissenschaftler verhielt sich wie ein Goldsucher, der im Bach der Unwissenheit nach den Nuggets der Erkenntnis fischte. Gelegentlich fand er einen kleinen gelben Klumpen im Kies der Unvernunft und im Sand der Ungewißheit, zwischen den haarigen, achtbeinigen und schwimmenden Dingen des Aberglaubens. In solchen Fällen richtete er sich auf und rief zum Beispiel: »Hurra, ich habe Boyles Drittes Gesetz entdeckt!« Dann fühlten sich alle viel besser. Das Problem war jedoch, daß die Ignoranz immer mächtiger wurde, insbesondere die große, faszinierende Unwissenheit bezüglich überaus wichtiger Angelegenheiten wie Materie und Schöpfung. Die Leute hörten damit auf, voller Geduld Häuser aus den Ziegeln der Vernunft im Chaos des Universums zu bauen. Statt dessen zeigten sie immer mehr Interesse an dem allgemeinen Durcheinander. Dafür gab es mehrere Gründe, auch diesen: Es war einfacher als alles andere, zu einem Experten für das Chaos zu werden. Hinzu kam, daß es reizvolle Muster auf T-Shirts bildete. Die Wissenschaftler lehnten es plötzlich ab, sich mit richtiger Wissenschaft 1 zu befassen, wiesen statt dessen auf die Unmöglichkeit hin, alles zu wissen. Sie meinten, eigentlich gäbe es gar keine Realität, über die man mehr herausfinden könnte, und das mit der permanenten Unwirklichkeit sei sehr aufregend. Und wußten Sie, daß überall kleine Universen existieren, die wir nur nicht sehen können, weilsie in sich selbst gekrümmt sind? Übrigens, gefällt Ihnen dieses T-Shirt?
Im Vergleich dazu ist eine große Schildkröte mit einer Welt auf ihrem Rücken geradezu banal. Zumindest trachtet sie nie danach, den Anschein von Nichtexistenz zu erwecken. Kein Gelehrter der Scheibenwelt hat jemals zu beweisen versucht, daß Groß-A’Tuin nicht existiert – aus Furcht davor, recht zu haben und sich plötzlich mitten in der Leere wiederzufinden. Nun, die Scheibenwelt befindet sich nicht nur auf dem Rücken der Himmelsschildkröte, sondern auch am Rand der Realität. Selbst der geringste Anlaß genügt, um Löcher ins Gefüge der Wirklichkeit zu bohren und Verbindungen zum Irrealen herzustellen. Deshalb neigen ihre Bewohner dazu, bestimmte Dinge recht ernst zu nehmen. Unter anderem Geschichten.
Weil Geschichten wichtig sind.
Manche Leute glauben, einzelne Personen gäben Geschichten ihre Form. Das Gegenteil ist der Fall.
Geschichten existieren unabhängig von ihren Erzählern beziehungsweise Hauptfiguren. Diese Erkenntnis gibt Macht.
Geschichten ähneln großen, langen Gummibändern aus Raum-Zeit, und seit dem Beginn des Multiversums winden sie sich überall hin und her. Auch bei ihnen kam es zu einer Evolution, die dafür sorgte, daß Schwache starben und Starke überlebten. Die Starken sind durch häufiges Wiedererzählen dick und fett geworden … Geschichten: Es gibt sie überall; in der Dunkelheit warten sie, auf Zungen und Lippen des Erzählers, auf die Ohren des Zuhörers.
Ihre Existenz schafft ein ebenso subtiles wie dauerhaftes Muster im Chaos des Historischen. Geschichten kratzen Rillen und Furchen, tief genug, daß ihnen Leute folgen – auf die gleiche Weise fließt Wasser in bestimmten Bahnen über einen Berghang. Wenn neue Darsteller den Pfad einer Geschichte beschreiten, so vertieft sich die betreffende Furche.
Man spricht in diesem Zusammenhang von der Theorie erzählerischer Kausalität. Es läuft auf folgendes hinaus: Wenn eine Geschichte beginnt, so nimmt sie Gestalt an und absorbiert die Vibrationen aller Versionen, die jemals von ihr erzählt worden sind.
Aus diesem Grund weisen historische Ereignisse die Tendenz auf, sich zu wiederholen. Tausend Helden haben den Göttern das Feuer gestohlen. Tausend Wölfe haben Großmutter gefressen. Tausend Prinzessinnen wurden geküßt. Millionen ahnungsloser Darsteller sind den Wegen von Geschichten gefolgt.
Wenn der dritte und jüngste Sohn eines Königs aufbricht, um etwas zu bewerkstelligen, woran seine beiden Brüder scheiterten … Ihm bleibt gar keine andere Wahl, als erfolgreich zu sein.
Den Geschichten ist es gleich, wer an ihnen teilnimmt. Ihnen geht es nur darum, erzählt zu werden, sich zu wiederholen.
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