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Die Delegation

Die Delegation

Titel: Die Delegation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Erler
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das Baby, erster Schultag der Tochter.
    »Er war ja ursprünglich Fotograf. Da gibt es noch so ein paar Kartons voll…«
    »Frau Roczinski, was würden Sie sagen: War er zufrieden? Ich meine: mit sich – mit seiner Tätigkeit?«
    »Ja, doch. Er liebte ja seinen Beruf. Aber, er sagte auch mal: Laß nur, das große Thema, das kommt noch!«

28
     
     
     
    Der kürzeste Weg über den Atlantik, hinüber nach Kanada, nach Montreal, verläuft auf einem Großkreis, der sechzig nautische Meilen nördlich von Cap Farewell die Südspitze Grönlands schneidet.
    Für den Betrachter einer Landkarte ist diese Kurve absurd. Über fünfzehn Breitengrade hinweg verläuft sie steil nach Norden und wieder zurück. Ein immenser Umweg? Nein. Wir reisen nicht über Karten – wir fliegen über die Oberfläche einer Kugel.
    Packeisschollen glitzerten vor den Fjorden, das gleißende Weiß der Gletscher wurde durch die bläuliche Tönung der Fenster kaum gemildert. Ein schmerzliches Weiß. Die Westküste Grönlands lag unter uns. Auf der Karte war da ein Ort verzeichnet, eine Siedlung mit dem anheimelnden Namen ›Lichtenau‹. Aber trotz bester Sicht war davon nichts zu erkennen. Vielleicht flogen wir einfach zu hoch.
     
     
    Und damals entstand so eine Art Gedankenspiel: diese ›Delegation‹ – das sind jetzt wir! Was denkt sich der Herr vom anderen Stern? Er nähert sich der Oberfläche eines Planeten, der eben noch blauschimmernd umwölkt, geheimnisvoll und vielversprechend vor ihm in der Schwärze des Universums schwebte. Was empfindet er in seiner abstrusen Einsamkeit? Er bremst seinen rasenden Flug, erkennt nun die ersten Details. Ist diese Kugel, dieser kreisrund geschliffene Materiebrocken im All, der aufleuchtet im Licht eines feurigen, fernen Zentralgestirns, das er langsam, sich drehend, umkreist – ist dieses Ziel seiner Reise durch die Unendlichkeit des Nichts – bewohnt?
    Ist dieser Planet belebt mit intelligenten Wesen? Vielleicht hatte unser Herr vom anderen Stern Signale aufgefangen, die, wie es ihm schien, irgendwo hier unten ihren Ursprung haben mußten. Aber nun schwebt er dahin über Wasser und Land und findet von Leben keine Spur. Auch wir überflogen wieder das Meer, die Davisstraße, erreichten endlich festes Land, den nordamerikanischen Kontinent, Kanada, Labrador:
    Nackte, abgeschliffene, flache, graue Felsen, tausend Seen, verkümmertes Buschland – eine unbesiedelte Wildnis zog langsam unter uns dahin, eine Stunde lang, vielleicht auch zwei. Da war keine Straße zu sehen, kein Weg, keine Siedlung, keine Hütte, kein Schienenstrang – nichts. Unbelebt also! Tot! Leer! Die Erwartungen der fremden Astronauten werden enttäuscht. Sind sie zu früh gekommen? Vielleicht wird er eines Tages intelligentes Leben tragen, dieser Planet, später einmal, in künftigen Zeitaltern seiner Entwicklung, in fernen Jahrtausenden…! Oder zu spät?
    Sind hier alle Kulturen schon längst untergegangen, ausgelöscht, sind die Ruinen einer großen Vergangenheit zugedeckt von Schutt und Vegetation, verfallen, eingeebnet, unkenntlich gemacht durch die Erosion von Jahrmillionen…? Da tauchte ein Silberband vor uns auf. Der St.-Lorenz-Strom. Und die Zeichen der Zivilisation trafen uns wie ein Schrei, wie ein Fanfarenstoß, triumphal und tödlich: Gelber, roter, brauner Rauch quoll uns entgegen, die Berge waren versetzt, verfärbt, zerrissen, die Erde aufgebrochen und zerwühlt. Künstliche Gebilde wucherten wie Schimmelpilze über das Land, schwärzlich, rostig, silbern, überspannt von einem Netz aus Draht und Rohr, ein Kreislaufsystem der Energie. Das Gewirr radialer Verbindungen, von Pisten, Straßen und Schienen kreuzte und schlängelte sich durch diese zerstörte Landschaft.
    Und das Wasser dieses gigantischen Stromes schillerte nun in hundert giftigen Farben, schlierig, schaumig gemasert, und ergoß sich in einer üblen, schmutzigen Blase ins offene Meer. Also doch ›belebt‹ – doch ›bewohnt‹ von ›intelligenten‹ Wesen. Sie waren zwar aus dieser Höhe nicht auszumachen, aber der Herr vom anderen Stern nickte befriedigt, seine Reise hatte sich gelohnt, das Signal hatte nicht getrogen, dieser Planet war fest in der Hand einer höherentwickelten Rasse, war nur noch ein profitables Spielzeug für eine technische Intelligenz. Ein Griff an den Hebeln – mit einem wissenden, traurigen Lächeln setzte der Herr vom anderen Stern zur Landung an.

29
     
     
     
    »In welchem Hotel?«
    »Ich bleibe nicht hier in Montreal,

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