Der verruchte Spion
1. Kapitel
England 1813
E in neuer Tag, und wieder ein Verehrer, der ihn nicht unbeschadet überstanden hatte.
Willa Trent seufzte, als sie sich nach einem Stein auf dem Feldweg bückte. Der arme Timothy. Er war noch so jung und jetzt fürs Leben gezeichnet. Dabei war er so tapfer gewesen.
»Sorgt Euch nicht, Miss Willa«, hatte er gesagt. »Ehe Ihr Euch verseht, kann ich wieder laufen.« Er hatte sie angelächelt, während sein Bein geschient und sein blutender Kopf bandagiert wurde.
Nie wieder. Von nun an wollte sie ihre Bürde alleine tragen. Nicht, dass sie jemals direkt von ihr in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Aber wovor sollte sie sich fürchten, wenn nicht vor einem Leben als alte Jungfer?
Sie atmete tief ein. Das alles gehörte der Vergangenheit an – dieser Morgen, er war vergangen, nicht wahr?
Niemals würde sie sich die Gegenwart durch die Vergangenheit vermiesen lassen. So wie ihr Traum, etwas von der Welt zu sehen, sich nicht erfüllt hatte, so müsste sie nun auch ihren Traum von einer eigenen Familie begraben. Sie war sich sicher, dass sie sich mit der Zeit damit abfinden würde.
Sie war nicht enttäuscht oder etwas in der Art, aber sie hatte beschlossen, den Rest des Tages allein zu verbringen, fern der Sympathiebekundungen und dem anzüglichen Grinsen der Dorfbewohner. Seufzend trat Willa vom Weg und kehrte auf das Feld jenseits der Hecke zurück. Wie immer ließ sie der Anblick des rosa überzogenen Abendhimmels
und des satten Grüns der rollenden Hügel Northamptonshires ihre Sorgen vergessen.
Dieses Grün, das die abscheulichen kleinen Geheimnisse verbarg, die sie heute offenbaren würde. Die Jagd- und Fallenstellersaison hatte noch nicht begonnen, und trotzdem hatte sie eine weitere üble Sägezahnfalle in der Nähe eines klaren Wildbaches entdeckt. Sie musste sie nur zum Zuschnappen bringen, bevor sie sie mit einem großen Gesteinsbrocken zerstören konnte.
Willa kniff ein Auge zu, genau so, wie der Junge, von dem sie die Steinschleuder geliehen hatte, es ihr gezeigt hatte. Leider war der kleine Seth jetzt nicht zur Hand, sonst hätte sie ihn gefragt, welches Auge sie zukneifen sollte. Sie zuckte die Achseln. Ein Auge war wahrscheinlich so gut wie das andere. Sie zielte genau auf die Mitte des runden, flachen Auslösers der verrosteten Wildererfalle, spannte die Steinschleuder so weit es ging und ließ los.
Grimmige Erwartung stieg in Nathaniel Stonewell, Earl of Reardon, auf, während er seinen Wallach auf der Straße Northamptonshires zu immer schnellerem Tempo antrieb. Er war seiner Beute dicht auf den Fersen. Blunt sprang mit einem Satz so weit wie Sir Fosters weniger edles Tier mit zweien und verringerte so den Abstand zwischen ihnen.
Am Nachmittag hatte Nathaniel an einer Kutschstation Rast gemacht, um Blunt zu tränken. Dort hatte er erfahren, dass ein Mann, auf den Fosters Beschreibung zutraf, nur wenige Stunden zuvor an der Station vorbeigekommen war. Seitdem hatte Nathaniel Blunt zu einem Tempo angetrieben, dem allein das edle Vollblut gewachsen war. Bald würde die Nacht hereinbrechen, und Nathaniel war guter Hoffnung, Foster einzuholen, wenn der Verräter sich für die Nacht im Dorf einquartierte, das Nathaniels Informationen zufolge nicht weit vor ihnen lag.
Nathaniel kniff gegen den Wind, der ihm bei Blunts wildem Galopp entgegenblies, die Augen zusammen und stellte sich in den Bügeln auf. Er ritt leicht wie ein Jockey oder zumindest so leicht, wie ein Mann seiner Größe es vermochte. So nah …
Foster war ein gieriger Feigling, aber nichtsdestotrotz gerissen. Wenn das letzte frei umherlaufende Mitglied der verräterischen Lilienritter es erst einmal in die belebten Stra ßen Londons geschafft hatte, bedürfte es einer Armee, ihn festzusetzen. Aber Nathaniel wollte die Hilfe einer Armee nicht.
Er wollte Foster für sich. Für den Betrug an England müsste Foster bezahlen. Und für den Verlust all dessen, was Nathaniel einst lieb gewesen war?
Hierfür würde er durch Nathaniels Hände büßen.
Ein politischer Cartoon hatte unbeabsichtigt Nathaniels Verbindung zu den Sympathisanten Frankreichs, den Lilienrittern, offenbart. Selbstverständlich hatte Nathaniel im Auftrag der Krone Kontakt mit der Gruppe aufgenommen, aber die Öffentlichkeit konnte man darüber schwerlich in Kenntnis setzen. Letztendlich hatte dieses Missverständnis dazu geführt, dass der Sohn des Anführers der Gruppe, der offensichtlich unschuldige Luis Wadsworth, aus dem
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