Die Delegation
Eine Silhouette vor einem roten, zerfressenen Himmel. Auch die Kamera kommt höher. Die Sonne brennt unbarmherzig ins Objektiv, wirft Ringe, Sterne, rotierende, verschlungene Kreise aus Licht.
Lundquist, ein Schatten, geht weiter, geht die wenigen Schritte hinauf aufs Plateau…
Es war nur ein Reflex. Ein alles überstrahlendes Licht.
Heller als die Sonne, den Himmel überstrahlend und die wandernden Ringe und Kreise im Objektiv. Ein metallisches Weiß für wenige Sekunden. Der Schatten – Lundquist – hebt die Arme, weht zu Boden. Staub, Rauch, Feuer auf den Steinen.
Die Kamera stürzt, stürzt rückwärts. Zerreißt das Bild, Himmel, Wolken, Berggipfel, Schatten, Geröll. Die Luft voller Asche.
Kurz nur: zwei Gestalten auf dem Boden – Lundquist – Callaghean – zwei Leiber in Flammen.
Hundertfacher Donner kommt zurück von den Bergen ringsherum, leise, gedämpft, sich überlagernd und brechend. Darüber der Schrei Roczinskis: »Nein! – Mike…!« Die Kamera rutscht den Hang herunter. Das Bild steht kopf, überschlägt sich, taumelt, dreht sich. Roczinski kommt näher, ein Trudeln – Schotter und Himmel und eine Wand von Rauch oben am Grat.
Roczinski greift nach der stürzenden Kamera, packt zu, läuft mit ihr bergab, rasender Boden, Sand, Steine, seine Schuhe. Er bleibt stehen.
Blick zurück. Rauch über den Bergen. Zwei schwarze Konturen auf dem hellen Sand – verkohlte Gestalten.
Wieder ein Lauf über Steine, das Bild färbt sich rot, orange, weiß.
Die letzte Rolle läuft aus der Kamera.
72
Durch Lima zog eine Prozession.
Die Straßen der Innenstadt waren gesperrt. Es hieß, eineinhalb Millionen Menschen seien unterwegs gewesen, begleiteten den Zug, säumten die Straßen. Die Frauen und Mädchen in lila Kleidern, die Männer mit lila Krawatten. Der Zug war kilometerlang.
Vorweg eine alte Christusstatue auf einem tonnenschweren Sockel. Etwa hundert Männer, die sich halbstündig abwechselten, trugen das Heiligtum.
Sie steckten unter dem Sockel, verborgen hinter schwerem Samt, gebückt, in Reih und Glied, in schlechter, heißer Luft, auf jeder Schulter eine Tragstange. Manchmal sah man Füße. Sie bewegten sich zentimeterweise vorwärts, Schritt um Schritt, im gleichen Takt. Es folgten Musikkapellen, lange Reihen der Priester, Formationen der Reichen, der Regierenden, jetzt also Abordnungen der Militärs – alles in vollem Ornat. Dann kam das Volk. Überwiegend Indios, dazwischen Kreolen, selten Weiße. Heute wurden Wünsche erfüllt, Sünden vergeben, Gelübde getan, heute wurde erlöst und geheilt, geholfen, getröstet in ganz besonderem Maße.
Der Wolkenschleier, der diese graue, staubige Stadt zehn Monate im Jahr bedeckt, den der kalte, antarktische Humboldtstrom wie einen dünnen Nebel über diesen Küstenstreifen legt und dadurch das Klima kühl und erträglich macht, dieser Vorhang zerriß.
Die Sonne stach herunter, brannte mit ihrer ganzen tropischen Unbarmherzigkeit auf diese dichtgedrängte, lilafarbene Menschenmasse.
Unter dem Podest brachen die ersten zusammen. Hatten versagt, wurden weggeschafft. Andere sprangen ein, büßten nun unter der Last eines tonnenschweren Gottes, der ihre Seele erleichterte, der sich ohne Halt Zentimeter um Zentimeter durch die Straßen dieser Stadt bewegte, vierundzwanzig Stunden lang.
Wir fuhren hinaus zur Sportfliegerschule ›Jorge Chavez‹. Verstopfte Straßen, Sperren, Umleitungen. Vor dem Gebäude steht ein monumentales Denkmal in Bronze: Jorge Chavez, der Flugpionier Perus, als Ikarus. Der geflügelte Mensch. Aufbruch zu den Sternen.
Ein Major erwartete uns. Indianischer Einschlag. Zur khakifarbenen Uniform trug er die lila Krawatte, zupfte an ihr herum. Er sei Atheist, meinte er, sogar ein überzeugter, aber was soll man da machen, an einem solchen Tag? Er hatte uns einen Zeitungsausschnitt herausgesucht, Expreso vom 7. November letzten Jahres.
Undeutlich: ein Porträt von Roczinski. Darüber: El redactor de Television que se perdiera, regresô de la expediciôn a las Montanas. ›Vermißter Fernsehreporter von Bergexpedition zurück.‹ Darunter:
›Der Berichterstatter des deutschen Fernsehens, der nach dem Unglücksfall vom 2. 11. verschwunden war, ist gestern überraschend in Lima eingetroffen.
Der Sportfliegerverband Aero Club de Colliques hatte bereits eine Suchaktion eingeleitet.
Wie bereits gemeldet, fanden am 2. November die beiden Mitarbeiter des Reporters in der Nähe von Nazca aus
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