Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
begann mit großem Rambazamba – und ehe ich mich versah, lag ich von allen verlassen in einer blöden, kalten Schale und konnte mich des Verdachts nicht erwehren, dass das alles nur ein ganz großer Beschiss war. Bis heute misstraue ich deshalb großen Ankündigungen. Ich bin der Prototyp eines Skeptikers – und das alles nur, weil irgendeine Putzfrau nicht bemerkt hat, dass mein Papa auf dem Klo saß.
Ich würde das als Zufall verbuchen, gäbe es bei meinem Freund Dilbert nicht eine ebenso offenkundige Parallele zwischen den Ereignissen in seinen ersten Minuten auf Erden und der grundlegenden Einstellung zum Leben, die er daraus entwickelte. Dilbert kam nämlich blau zur Welt. Er hatte sich im Mutterleib die Nabelschnur um den Hals gewickelt, kräftig daran gezogen – und dann blieb ihm die Puste weg. Das Erste, was Dilbert also überhaupt erlebte, war eine äußerst erregte Hebamme, die ihm die Schnur ablöste und ihn dann unter kühner Missachtung aller Grundregeln der Antisepsis Mund zu Mund beatmete. »Ich habe meinen ersten Kuss mit zwei Minuten bekommen«, pflegt Dilbert jedem zu erzählen, der ihn gerade kennen lernt. Und das ist nur zur Hälfte eine lustige Bemerkung. Zur anderen Hälfte ist es blanke Selbstüberschätzung. Dilbert, den übrigens jeder nur Dille nennt, kann sich bis heute nicht erklären, warum es tatsächlich Frauen gibt, die nicht sofort, wenn sie ihn sehen, das unbändige Verlangen verspüren, ihre Lippen auf die seinen zu pressen. Dille hält sich für erste Sahne.
Sven, das hat mir seine Mutter einmal erzählt, war eine Steißgeburt. Und auch das passt zu meiner These: Sven macht noch heute nicht unbedingt das, was man von ihm erwartet. Und Petra? Nun, da habe ich zumindest eine sehr gute Vermutung: Die Hebamme, wahrscheinlich noch ziemlich neu in ihrem Beruf und entsprechend aufgeregt, hob das Baby Petra hoch, blickte ihm kurz zwischen die Beine und lächelte dann Petras Mutter an: »Gratuliere, ein Junge!« Dann, als sie genauer hinschaute, merkte sie, dass es ihr eigener Finger war, der zwischen Petras Beinen hervorlugte, und korrigierte sich hastig. Aber irgendwo in Petras Gehirn hatte sich die erste Information schon fest verankert: Ein Junge? Ich bin ein Junge! Junge, Junge …
Über Bernhards Geburt weiß ich nichts. Als ich meine Theorie der ersten Minuten entwickelte, war er bereits verschwunden. Auf seine ganz besondere Reise, die uns alle so faszinieren sollte. Ich konnte ihn also nie nach den Details seines großen Auftritts fragen. Ich nehme allerdings an, Bernhards erste zehn Minuten waren irgendwie traurig. Alles, was mit Bernhard zu tun hat, ist nämlich irgendwie traurig. Ich glaube, deshalb hatten wir alle ihn immer so gern um uns: Er war die arme Sau, die es immer noch ein bisschen schlimmer traf. Das hat uns anderen stets die Perspektive zurechtgerückt und Demut gelehrt: Was auch immer uns gerade quälte – es war immer noch einen guten Schritt von Bernhards Problemen entfernt.
Und was war mit Susanns Geburt? Ach, Susann …
Ich habe keine Ahnung.
Nicht den leisesten Schimmer.
* * *
»Wie geht’s denn Karola?«, fragte der Dicke seinen Nebenmann am Tresen und signalisierte gleichzeitig dem Wirt, dass es ihm dringend nach einem neuen Bier verlangt.
»Is’ so weit mit Karola«, brummte der Mann. »Sie is’m Krankenhaus. Seit halb vier schon.«
»Ui!«, tat der Dicke seine Überraschung kund. »Und du bist nich’ da? Als ihr Mann, und so?«
»Was soll ich da rumsitzen?« Karolas Mann zuckte mit den Schultern. »Sie ruft hier an, wenn sie fertig is’.«
Der Dicke nickte. Einleuchtend. Was sollte er da rumsitzen?
Irmhild, die vom Tisch aus zugehört hatte, erhob sich ächzend. Ihre Hüfte machte ihr mal wieder zu schaffen. »Was hör’ ich? Das Kind kommt?« Karolas Mann nickte und grinste unbeholfen. »Hubert als Vater!« Irmhild war entzückt.
»Wird ’n guter Vater, unser Hubert!«, gab sich der Dicke überzeugt und klopfte Karolas Mann auf die Schulter. »Der kann bestimmt gut mit Kindern. Is’ ja selbst noch ’n halbes Kind!«
Hubert, der sich mit seinen fünfundzwanzig Jahren durchaus als ausgewachsenen, ja sogar gestandenen Kerl empfand, verzog ein wenig das Gesicht. Aber seine Gesichtszüge glätteten sich nahezu unverzüglich, als der Mann hinter dem Tresen drei Gläser Korn vor sie stellte und sein jovialstes Lächeln aufsetzte: »Auf den werdenden Vater! Geht aufs Haus!«
Irmhild war Hubert mittlerweile so dicht auf den Pelz
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