Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
mich gar nicht gehört. »Ein Freund ist jemand, der einem hilft, wenn es einem schlecht geht. Der alles tun würde, damit es einem besser geht.«
»Aber …«
»… und dein Freund Sven ist im Moment sehr, sehr traurig. Du solltest für ihn da sein. Manchmal sind die anderen ein ganz klein bisschen wichtiger als man selbst.« Er sah mich lange an, mit einem Blick, den ich vorher noch nie von ihm gesehen hatte. Und dann sagte er etwas, was ich niemals vergessen werde: »Heute war das allererste Mal, dass ich mich für dich geschämt habe.«
Leise verließ er mein Zimmer und schloss die Tür.
Am Tag darauf habe ich mich murmelnd bei Sven entschuldigt. Er zuckte nur mit den Schultern, als ob es eine Lappalie gewesen wäre.
1966
E iner meiner Lieblingsfilme ist Die Geschichte einer Nonne mit Audrey Hepburn. Ich werde niemals die Schlussszene vergessen, in der Audrey ihre Nonnentracht ablegt, ein kleines Köfferchen packt und ebenso traurig wie entschlossen aus dem Kloster schreitet. Sie glaubte an Gott, aber die Institution der Kirche funktionierte für sie nicht. Sie war dort falsch.
So ging’s mir mit der Schule. Ich wollte etwas lernen, aber die Methoden fand ich widerlich. Leider konnte ich im Gegensatz zu Schwester Audrey nicht einfach gehen. Staatliche Bildungsstätten sind nun mal bedauerlicherweise keine Glaubensfrage, sondern Pflicht. Ich steckte also fest in dieser Zwingburg sinnloser Rituale, erzwungenen Respekts und des Prinzips des blinden Repetierens. Und noch heute, mit vierzig, wache ich manchmal mitten in der Nacht auf, schweißgebadet und kurzatmig, weil ich von versäumten Hausaufgaben oder geschwänztem Sportunterricht geträumt habe.
An jenem sonnigen Septembermorgen des Jahres 1966, als ich mit der Schultüte in der Hand aus der Haustür trat, wusste ich allerdings noch nicht, dass die Schule und ich nicht kompatibel sein würden. Ich freute mich. Ich war ein großer Junge. Drei Eingänge weiter öffnete gerade Svens Mutter die Tür. Sven kam heraus, ebenfalls ausstaffiert mit einer großen, bunten, zylinderförmigen Schultüte, die – wie ich heute weiß – kein echtes Geschenk, sondern eine Art präventiver Schadensersatz ist. Svens Mutter küsste ihren Sohn und winkte ihm nach, als er mit mir und meinen Eltern losdackelte. Svens Mutter konnte nicht mit zur Einschulung; sie musste arbeiten. Alleinerziehende Mütter müssen immer arbeiten.
Sven und ich kicherten während des gesamten Weges, wir bewegten uns hoppsend fort und drückten die Daumen, dass wir zusammen in eine Klasse kämen. Dann würden wir nebeneinander sitzen.
Petra, die mittlerweile fest zu uns gehörte, begleitete uns nicht. Sie wurde von ihren Eltern in eine reine Mädchenschule verfrachtet. Ich glaube, der Plan von Petras Eltern war, ihr somit ein für alle Mal zu beweisen, dass sie kein Junge sei. Sie sollte dort wohl lernen, wie eine zukünftige Frau zu denken und zu handeln. Sie sollte, wie Psychologen sagen würden, in Kontakt mit ihrer weiblichen Seite kommen. Es sollte allerdings, um schon mal etwas vorauszugreifen, noch sehr, sehr lange dauern, bis Petra diese interessante Erfahrung zuteil wurde.
Als wir den Schulhof betraten, hielt ich den Atem an. Menschen! So viele Menschen! Und mit einigen von ihnen – denen unter ein Meter dreißig – würde ich demnächst viel Zeit verbringen. Ich musterte die Kinder, ob jemand potenziell Spannendes dabei wäre. Was mir ins Auge stach, war allerdings kein Kind, sondern zwei Erwachsene. Ein Mann und eine Frau. Der Mann sah aus, als hätte er in seinen Klamotten geschlafen. Er war ungekämmt, unrasiert und schoss mit seinen Augen wütende Blitze in die Menge. Zuerst wusste ich nicht, warum er so böse schaute, dann sah ich, dass ihn die anderen Eltern mit offener Missbilligung musterten. Sein Blick sagte einfach: Ich hasse euch auch . Die Frau neben ihm hatte dagegen versucht, sich hübsch zu machen. Vergeblich. Sie war sehr dick, und ihr Kopf war so rot, als wäre er bis zur Schmerzgrenze aufgepumpt und würde gleich platzen. Dessen ungeachtet hatte sie sich noch zusätzliche Farbe ins Gesicht geschmiert: zwei rote Balken auf die Wange, hellblaue Balken zwischen Augen und Augenbrauen. Sie trug einen beigefarbenen Hosenanzug, und ihre Haare hatte sie offenbar sehr lange, aber ohne rechtes Konzept mit einem Lockenstab traktiert. Die Frau versuchte so verzweifelt, entspannt auszusehen, dass sie ihre Position fast im Sekundentakt veränderte und vor lauter
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