Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
auftauchte. Sven und ich waren gerade damit beschäftigt, eine Horde von imaginären Gespenstern in ihre Schranken zu weisen. Das heißt, ich bändigte die Gespenster – und Sven durfte mich dabei anhimmeln. Da stand sie plötzlich vor uns: eine kleine, drahtige Gestalt mit strubbeligem rotem Haar. Damals gab’s den Pumuckl noch nicht, aber ich kann mir gut vorstellen, dass die Erfinderin dieses Kobolds irgendwann einmal Petras Weg gekreuzt hat und sich von ihrem Anblick inspirieren ließ.
Petra stand einfach nur da und betrachtete uns, den Kopf leicht schief gelegt und mit hellwachem Blick. So wie ein Ethnologe wohl dem heidnischen Ritual eines bislang unentdeckten afrikanischen Stammes beiwohnen würde. Ich schielte nur hin und wieder verstohlen zu ihr hinüber, war ansonsten aber fest entschlossen, sie zu ignorieren. Die meisten kleinen Kinder sind ein bisschen wie CSU-Wähler: Alles, was neu und fremd ist, finden sie erst einmal bedrohlich. Jedes Novum ist ein potenzieller Angriff auf die eigenen Pfründe. Sven, der gutmütige Sven, lächelte Petra allerdings zu. Ich funkelte ihn giftig an und ließ ihn dann in aller Eile sogar eine eigene Attacke gegen die Gespenster reiten, nur damit er von diesem Fremdkörper abgelenkt wurde. Wenn ich gewusst hätte, dass Petra ein Mädchen ist, hätte ich sie wohl einfach mit einer atavistischen Drohgebärde zu verjagen versucht. Aber ich hielt Petra für einen Jungen. Sie hatte nicht nur diese kurze Zottelfrisur, dreckige Jeans – Nietenhosen hießen die damals – und einen typischen Jungenanorak an, sie hatte auch diese kiebige, rumpelige Aura.
Nach einer ganzen Weile, während der Sven und ich eisern unser Spiel durchzogen und so taten, als wäre sie gar nicht da, öffnete sie plötzlich den Mund und fragte mit erstaunlich kratziger Stimme: »Wenn die Gespenster unsichtbar sind – wie wisst ihr dann, wo ihr hinhauen müsst?«
Eine unerfreulich berechtigte Frage!
Sven sah mich, seinen Guru, erwartungsvoll an. Ich brauchte eine wirklich überzeugende Antwort. »Ich kann die riechen. Die stinken!«, war alles, was mir einfiel. Petra zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
Svens Blick wanderte äußerst interessiert zwischen Petra und mir hin und her.
»Außerdem geht dich das nix an. Geh’ weg!«, versuchte ich das bevorstehende Verbalfiasko im Keim zu ersticken.
Petra rührte sich nicht. Ich funkelte sie wütend an. Und Sven, dieser wankelmütige Jünger, fand die ganze Situation offenkundig hochinteressant.
»Ich hab ein Gespenstergewehr«, sagte Petra schließlich. »Das schießt sieben auf einmal tot!« Und dann hob sie einen Stock auf, legte ihn an wie eine Flinte und brüllte: »Ratatatatatata!«
Sven riss die Augen auf. »Toll!«, rief er. »Darf ich auch mal?« Gönnerhaft gab ihm Petra ihr Gewehr, und Sven feuerte begeistert eine Salve auf die Gespenster ab. Ich stand da, völlig abgedrängt, und kapitulierte schließlich: »Ich heiße Piet«, sagte ich.
»Ich heiße Petra«, sagte sie.
»Petra?«, rief ich entsetzt. »Du bist’n Mädchen?«
»Ja.« Petra funkelte mich wütend an. »Aber ich bin stärker als du!«
Ich sagte lieber nichts mehr. Wahre Führer wissen, wann es klüger ist, einen temporären Rückzug anzutreten.
* * *
»Hör auf, mich anzulügen!«, schrie Amelie. »Deine dummen Überstundengeschichten glaube ich dir schon lange nicht mehr!«
Franz zischte: »Sei still. Du weckst Sven auf.«
Amelie senkte tatsächlich ein wenig ihre Stimme, aber der Tonfall aus Wut und Traurigkeit blieb derselbe. Franz ahnte, dass es diesmal wirklich ernst war.
»Ich schaue mir das schon viel zu lange an«, sagte Amelie. »Ich will nicht mehr.« Sie sah Franz direkt in die Augen. »Ich will nicht mehr. Und ich kann nicht mehr!«
Franz wollte seine Frau besänftigen und versuchte ihr den Arm um die Schulter zu legen. Doch Amelie stieß ihn weg. Mit verblüffender Kraft. Und dann, als hätte sie ihre letzte Reserve an Energie aufgebraucht, sackte sie zusammen, ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und begann zu weinen.
»Wieso?«, fragte sie schließlich, schluchzend.
Franz zuckte mit den Schultern.
»Ist sie hübscher als ich?« Amelie flüsterte jetzt fast.
Franz überlegte. Ein wenig zu lang. Doch dann schüttelte er den Kopf.
»Was?«, fragte Amelie. »Was dann?«
»Es … Es ist …«, begann Franz. Doch dann verstummte er wieder. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er ging hinaus in den Flur, langsam, als hoffte er, Amelie würde ihn
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