Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
Vom Netzwerk:
zurückrufen. Dann zog er sich seine Jacke und seine Schuhe an und ging.

    Drei Tage später kam Franz mit einem geliehenen VW-Bus zurück und lud ein paar Kartons mit Sachen ein. Er drückte Sven, der gar nichts verstand, an sich. Franz küsste seinen Sohn, wieder und wieder. Und dann – ahnend, dass dieser Abschied anders war als alle anderen Abschiede, die Sven je erlebt hatte – begann der Junge zu weinen. Auch Franz kämpfte mit den Tränen. Er drückte seinen Sohn noch einmal – so fest, als wolle er Spuren auf ihm hinterlassen, die nie vergehen. Und dann ging Svens Vater. Für immer.
    * * *
    Ich fand’s aufregend. Kein Vater mehr – das war echt ein ganz großes Ding! Heute sind Scheidungen Alltag. Aber damals, 1965, war ein Kind, das nur bei seiner Mutter aufwächst, eine ziemlich spektakuläre Angelegenheit. Ich hatte einen Freund, der in der ganzen Straße Gesprächsthema war! Frauen drehten sich zu Sven um, musterten ihn, tuschelten anderen Frauen etwas zu. Manche tätschelten seinen Kopf und blickten ihn mitleidig an. Ein Mann schenkte Sven eines Tages fünfzig Pfennig. Einfach so! Als ob er sich davon einen neuen Vater kaufen könnte. Wir holten uns Prickel Pit dafür.
    Ich gebe es freimütig zu: Ich genoss die ganze Show enorm! Doch Sven konnte meine Euphorie nicht teilen. Er vermisste seinen Vater. Ich konnte das nicht verstehen: Ich hatte Svens Vater immer als ziemlichen Langweiler empfunden. Ein öder Typ, der nie Quatsch machte und irgendwie immer müde aussah. Meistens, wenn ich ihn sah, las er eine Zeitung oder ein Buch. Er schaute immer nur kurz hoch, sagte: »Hallo, Piet«, und verschwand dann wieder hinter seinem Druckerzeugnis. Echt, ein Typ ohne jeden Unterhaltungswert.
    Mein Papa dagegen konnte uns mit Geschichten von fliegenden Elefanten und Indianern, die immer nur rückwärts laufen, unterhalten. Er erzählte seine Flunkereien in leisem, distinguiertem Duktus, der den Unfug wunderbar glaubhaft machte. Wirklich, mein Papa war ein prima Geschichtenerzähler! Und er hatte Mitleid mit Sven. Svens Vater war ein guter Freund meines Papas gewesen. Franz fehlte meinem Papa ziemlich – und er konnte sich sicher sehr gut vorstellen, um wie viel mehr sein eigener Sohn ihn vermissen musste. Ich glaube, wenn ich etwas mehr von dem Mitgefühl, der Sanftheit und Nachdenklichkeit meines Vaters geerbt hätte, wäre ich ein besserer Mensch geworden. Aber ich schlage eher nach meiner Mutter – ich bin nicht sehr gut im Anteilnehmen. Hier kommt der Beweis: Eines Sonntagmorgens am Frühstückstisch sagte mein Vater zu mir: »Na, Steppke« – er nannte mich immer Steppke – »wollen wir ins Kino gehen?« Ich flippte völlig aus. Kino! Endlich! Seit einem Jahr war mir bewusst, dass in dem großen, grauen Gebäude am U-Bahnhof Farmsen Filme gezeigt wurden. Und seitdem bettelte ich in regelmäßigen Abständen, dass ich dort hineingehen wollte. An diesem Sonntag – ohne Vorwarnung, ohne dass ich quengeln musste, ohne erkennbaren Grund – sollte es nun tatsächlich so weit sein! Selbst meine Mutter lächelte, als mein Vater das vorschlug. Heute weiß ich natürlich, dass die beiden sich das zusammen ausgetüftelt haben – als kleinen Trost für den niedergeschlagenen Sven, der uns nämlich begleiten sollte.
    Und so saßen wir also an diesem Sonntagmittag im Roxy , mein Vater zwischen Sven und mir. Es gab einen Zeichentrickfilm mit Bugs Bunny. Und wir drei amüsierten uns prächtig, bis … bis ich entdeckte, dass Sven sich heimlich, still und leise die Hand meines Vaters geschnappt hatte. Er hielt sie ganz fest. Ich beugte mich sofort wutschnaubend herüber und zerrte an Svens Arm. Er sah mich entsetzt an und ließ meinen Vater natürlich sofort los. »Das ist mein Papa!«, schrie ich Sven an. Und dann knallte ich ihm eine, mit der flachen Hand, mitten ins Gesicht.
    Sven heulte laut auf und rannte aus dem Kino. Mein Vater packte mich denkbar unsanft am Kragen und zerrte mich hinter sich her. Wir entdeckten Sven sofort: Er stand heulend im Foyer, unter einem Plakat von Alexis Sorbas . Mein Vater nahm Sven in den Arm, trocknete ihm die Tränen und hielt während des gesamten Rückwegs nach Hause seine Hand. Mich würdigte mein Papa keines Blickes. Erst abends, als ich im Bett lag, sprach er wieder mit mir.
    »Ist Sven nicht dein Freund?«, fragte er.
    »Doch«, murmelte ich. »Aber er soll nicht deine Hand anfassen!«
    »Weißt du, was ein Freund ist?«, fuhr mein Vater fort, als hätte er

Weitere Kostenlose Bücher