Der Tote am Lido
TEIL I
1
Meseret drückte den Gummiknopf, der Motor erstarb. Die Heckwelle versetzte dem Boot einen letzten Schub, dann glitt es fast lautlos über die ruhige See. Im Dunst tauchte die Plattform auf, wo der Wachmann Dienst schob. Licht brannte, sein Boot schaukelte im sanften Wellengang. Er hatte Meseret nicht bemerkt.
Dieser nahm das Ruder, tauchte es vorsichtig ein und dirigierte das Boot durch die im Mondlicht schimmernden Pfähle, auf denen Möwen saßen, weiß und reglos wie Statuetten. Er nahm den Eisenrechen und fischte nach den großblättrigen Algen, die in nur achtzig Zentimetern Tiefe wucherten, und dem Getier, das unter diesem Teppich vegetierte, Licht und Sauerstoff nahmen. Seine Schultern und Oberarme schmerzten nach dem langen Arbeitstag am Strand und mit der Farbrolle. Aber in seiner Heimat hieß es: »Dein Ziel sagt dir, wie viel Kraft du hast.«
Immer wieder tauchte er den Rechen ein und schaufelte die Algen an Bord. Während sich unter seinen Gummistiefeln ein glitschiger, süßlich riechender Haufen bildete, dachte er an Joy, in deren Augen sich die Farbe spiegeln würde, die er heute auf die Wände aufgetragenhatte. Pistaziengrün, ihre Lieblingsfarbe. Und morgen würden sie Einweihung feiern und Muscheln essen.
Er ließ den Metallkorb hinab auf den Grund, fixierte das Stahlseil an der Bordwand und paddelte vorsichtig, so dass der Korb sich wie ein Schirmanker in die Schicht aus Schalentieren grub.
Meseret sog die salzige Luft und die Würze des Meertangs ein. Er schloss für einen Moment die Augen. Fast wie früher, als er mit seinem Vater hinausgefahren war, um Tintenfische zu fangen.
In der Ferne war ein kräftiger Motor zu hören. Meseret legte das Ruder in den Rumpf und wartete. Es war verboten, in der Nacht mit den Fischerbooten rauszufahren. Wenn die Küstenwache oder der private Wachdienst ihn erwischte, dann kostete das fünfhundert Euro Strafe.
Er starrte in den Nebel, und als die laue Brise eine Lücke riss, sah er das Boot des Wachmanns. Es schaukelte noch immer neben der Plattform. Hatte sich Meseret das Geräusch nur eingebildet? Die Lagune war groß, 26 Quadratkilometer, der Wind trug Geräusche weit über die See.
Eine Möwe, die sich von einem der Pfähle erhoben hatte, ließ sich im Sturzflug auf das Boot fallen, fing sich mit einem Schlag ihrer breiten Schwingen ab und drohte mit ihrem Schnabel.
»Ich habe keinen Abfall«, flüsterte Meseret. »Du musst dich selbst um deinen Fang kümmern, verstehst du? Geh fischen.« Er versuchte, den Vogel zu vertreiben,aber dieser wich dem Rechen mit einem nonchalanten Hüpfer aus und kreischte meckernd.
»Du willst mich auf den Arm nehmen?«, zischte Meseret.
Als wieder Stille herrschte, hievte er den Metallkorb an Bord. Die Muscheln prasselten auf die Algen.
Plötzlich gab es einen metallischen Schlag, die Möwe flog auf, ein heftiger Ruck, Meseret lag auf dem Bauch. Aus dem Augenwinkel sah er den weißen Rumpf einer imposanten Yacht. Sie hatte ihn gerammt.
»He, bist du blind? Was hast du hier verloren?«, rief Meseret zornig, aber er dämpfte seine Stimme, damit der Wächter ihn nicht hörte.
Auf der Yacht stand ein Mann, der beschwichtigend die Hand hob. »Der Nebel, tut mir leid.«
»Sie dürfen hier nicht rein. Sehen Sie die Markierungspfähle nicht?«
»Ich muss mich verfahren haben.« Der Mann startete seinen Motor, kurbelte am Ruder und drehte bei. Dann schaltete er in den Leerlauf, stand auf, ging schwankend am Steuerrad vorbei bis zur Bugspitze und kontrollierte, dass keines der Boote beschädigt war.
»Und?«, fragte Meseret.
»Nichts passiert.«
Der Mann hielt die Hand ausgestreckt, um sich zu entschuldigen.
»Schon gut«, sagte Meseret, der wusste, wie stabil sein Metallrumpf war. »Wo wollten Sie denn hin?«
»Moment«, sagte der Mann. »Ich habe eine Markierung auf der Karte.« Er verschwand in der von getöntemPlexiglas umspannten Kommandobrücke. »Kommen Sie ruhig an Bord.«
Meseret zögerte. Er wollte so schnell wie möglich in den Hafen zurück. Wieso hatte der Wachmann den Zwischenfall nicht bemerkt?
»Was ist?«, fragte der Mann. Und da erkannte Meseret das Gesicht. Noch ehe er auf Abstand gehen konnte, hörte er ein Wuschen, wie wenn eine Peitsche durch die Luft saust. Er wurde am Kopf getroffen, flog nach hinten, spürte, wie sein Ohr am Gashebel entlang schrammte und sein Nacken auf den Sitz prallte. Der Schock lähmte Meseret nur für einen Moment. Dann pumpte der Schmerz das Adrenalin in
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