Die Deutsche - Angela Merkel und wir
erschiene sie im Vergleich zum ostdeutschen Systembruch auch noch so klein. In gewisser Weise ist Merkel, die bis zum Alter von 35 Jahren in einer für Westdeutsche sehr fremden Welt lebte, eine Einwanderin im eigenen Land. Das gilt auch für ihre Rolle als Frau in einer Republik, die überholten Geschlechterbildern länger treu blieb als andere europäische Länder.
Inzwischen hat sich Merkel auf unsere Gefühlslage fast perfekt eingestellt. Wenn sie merkt, wie tief unsere Angst vor den unsichtbaren Strahlen der Atomkraftwerke sitzt, dann schaltet sie die Reaktoren ab. Wenn sie realisiert, wie ungern wir unsere Soldaten in gefährliche Weltregionen schicken, dann stimmt sie neuen Einsätzen im Sicherheitsrat nicht mehr zu. Wenn sie beobachtet, wie kritisch wir den Kapitalismus sehen, dann schreibt sie den Mindestlohn ins Wahlprogramm. So will sie, wie sie nach der vorigen Bundestagswahl ankündigte, die Kanzlerin aller Deutschen sein.
KAPITEL 1:
NORMALITÄT
Will ein Normalsterblicher der Kanzlerin begegnen, geht er am besten in die Oper oder ins Theater. Stets ist es ein Akt mühsam inszenierter Normalität, wenn Angela Merkel mit ihrem Ehemann Joachim Sauer eine Oper von Richard Wagner besucht oder sich von der Vorsitzenden des Kulturausschusses des Bundestags zu einem Stück von Gerhart Hauptmann begleiten lässt. Die Sicherheitsbeamten halten sich dezent im Hintergrund, Angela Merkel schlendert mit ihrer Begleitung so beiläufig wie nur möglich durchs Foyer. Die übrigen Besucher bemühen sich, nur aus dem Augenwinkel hinzuschauen und bloß dezent zu tuscheln. Merkel weiß, dass sie unter besonderer Beobachtung steht, und sie ist das Thema der Flurgespräche. Aber es gehört zum Spiel, wenigstens hier unter Kulturmenschen, dass beide Seiten die Fassade der Beiläufigkeit aufrechterhalten.
So ist es auch am 28. Oktober 2012, dem Sonntag vor dem Reformationstag. Die Deutsche Oper Berlin spielt zum dritten Mal den neuen Parsifal, den sie sich zu ihrem hundertsten Geburtstag gegönnt hat. Die Titelrolle singtKlaus Florian Vogt, der jugendliche Heldentenor mit der überirdisch hellen Stimme. Inszeniert hat Philipp Stölzl, ein Sohn des früheren Berliner Kultursenators und CDU-Landesvorsitzenden Christoph Stölzl. In der Pause sitzt der stolze Vater mit der Kanzlerin an einem Tisch, den der Intendant im Foyer unter der großen Treppe hat aufstellen lassen. Unauffällig ist das nicht, es erinnert an die lange Tafel, an der Merkel auf Parteitagsempfängen Hof hält.
Ihre Vorliebe für Richard Wagner, den deutschesten aller Komponisten, hat Merkel schon lange kultiviert. 1991 besuchte sie zum ersten Mal die Bayreuther Festspiele. »Zu Wagner habe ich durch meinen Mann gefunden«, sagte sie in einem Interview, und in der Tat zählen die Opernbesuche zu den wenigen Ereignissen, bei denen der Chemieprofessor die Kanzlerin in der Öffentlichkeit begleitet. Merkels besondere Vorliebe gilt dem Tristan, dessen zweiten Akt der Meister in Venedig schrieb – und bei dem »das bittere Ende schon von Anfang an durchscheint, vom ersten Ton an«, wie die CDU-Vorsitzende 2005 erläuterte. Es klingt seltsam, wenn sich ausgerechnet die Pragmatikerin für das Morbide begeistert. Aber vielleicht hält sie Dinge so gern unter Kontrolle, weil sie um die Gefahr des bösen Endes weiß.
Trotzdem bleibt es erstaunlich, wie Merkel ihre Vorliebe für Wagner zelebriert. Sie ist die erste Bundeskanzlerin, die zur Eröffnungspremiere der Bayreuther Festspiele erscheint. Keiner ihrer Vorgänger hat das historisch belastete Gelände betreten, mit Ausnahme Gerhard Schröders, der seinen japanischen Amtskollegen zu einer Repertoirevorstellung begleitete. Der erste Regierungschef KonradAdenauer und das erste Staatsoberhaupt Theodor Heuss waren den Nachkriegsfestspielen bewusst ferngeblieben. Als Bundespräsident Walter Scheel 1976 eine Rede zur Hundertjahrfeier der Festspiele hielt, ging er demonstrativ auf Distanz. »Bei Lichte besehen« vermittelten Wagners Musikdramen dem Publikum keine höheren Einsichten als die Werke anderer Künstler, erläuterte er. Bayreuth sei nicht das »geistige Zentrum der Welt«. Kein bundesdeutscher Politiker wollte mit den Festspielen in Verbindung gebracht werden, deren einstige Leiterin Winifred Wagner sich über das Ende der Nazizeit hinaus als glühende Verehrerin Adolf Hitlers zu erkennen gab.
Woody Allen hat den Punkt treffend benannt. Wenn er Wagner höre, erklärte er in dem Film Manhattan Murder Mystery,
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