Die Deutsche - Angela Merkel und wir
dann bekomme er »das Bedürfnis, in Polen einzumarschieren«. Niemand käme auf die Idee, Merkel einen solchen Impuls zu unterstellen – und das nicht nur, weil sie dem Spiegel schon im Jahr 2000 bekannte, sie sei wegen ihres aus Posen stammenden Großvaters »zu einem Viertel polnisch«. Das völlig Unpathetische ihrer Person lässt den Gedanken der Großmannssucht gar nicht erst aufkommen, es macht auch in der Schuldenkrise die deutsche Führungsrolle für andere Europäer erträglicher. Bei dem als Geschichtspolitiker stets umstrittenen Helmut Kohl, der die polnische Westgrenze 1990 erst nach langem Zögern anerkannte, wäre das anders gewesen. Das gilt auch für Schröder, der das neue Selbstbewusstsein der Berliner Republik bisweilen sehr unverstellt zum Ausdruck brachte.
Als einen der großen Außenseiter und Unverstandenen, die Hitler an Wagners Personal so bewunderte, siehtsich Merkel offenkundig nicht. Auf die Frage, ob sie sich beim »Dienen« selbst auflösen wolle wie die Gralsbotin Kundry im Parsifal, reagierte sie in dem erwähnten Interview verständnislos: Als sie im Wahlkampf 2005 ankündigte, sie wolle Deutschland dienen, habe sie nicht an Wagner gedacht, sondern an Friedrich II. von Preußen als ersten Diener seines Staates.
Die zur Schau gestellte Wagner-Begeisterung gibt der Kanzlerin eine abgründige Note, die der Bodenständigen ansonsten abgeht. Man soll nicht glauben, dass Merkel über das Schicksalhafte im Tristan nicht mit Bedacht spräche und dass sie beim Reden über Wagner die unerbittliche Eigenlogik des Machtstrebens in der Ring- Tetralogie nicht im Blick hätte. Vielleicht hätten die Widersacher in der CDU, die sich mit den Jahren selbst ins Abseits stellten, das Schicksal des Personals von Walhall und Nibelheim studieren sollen. Der Italiener Giuseppe Verdi, politisch viel vernünftiger als Wagner, würde mit seiner pragmatischen Lebensnähe niemandem einen vergleichbaren Schauder einjagen, auch wenn er die menschlichen Abgründe durchaus kannte. Unter den kulturellen Interessen der Kanzlerin erregt nur ihre Wagner-Begeisterung so viel Aufmerksamkeit. Dagegen bleibt es vergleichsweise unbemerkt, wenn sie in Berlin andere Vorstellungen besucht oder zu den Festspielen nach Salzburg fährt.
Dass Merkel ihre Wagnerliebe öffentlich auslebt, erstaunt aus einem weiteren Grund. Viele Deutsche betrachten es mit einem gewissen Misstrauen, wenn ihre Spitzenpolitiker eine Neigung zur Hochkultur an den Tag legen. Als der Hamburger Bürgermeister Ole von Beust 2008 einBündnis mit den Grünen einging, wurde der neue Senat als »Koalition der Opernbesucher« verunglimpft. Daraufhin stritt von Beust jedes Interesse am Musiktheater ab. »Ohne mich damit brüsten zu wollen: Die Opernbesuche in meinem Leben kann ich an einer Hand abzählen. Zuletzt war ich in einer Barockoper, glaube ich. Sie war jedenfalls ziemlich lang.«
Die Wissenschaftlerin aus dem Theologenhaushalt hält es umgekehrt und bemüht sich nicht, Nähe zur Populärkultur zu heucheln. »Ich bin nie sehr weit gekommen mit der Popmusik«, erklärte sie in dem Wagner-Interview. Es ist ihr zuzutrauen, dass sie eine Nachmittagstalkshow anstrengender findet als eine abendfüllende Wagner-Oper: Was sind schon fünf Stunden für eine Politikerin, die ihre Erfolge auf europäischem Parkett auch einem enormen physischen Durchhaltevermögen zu verdanken hat? Nur ein Interesse an Fußball stellt sie offensiv zur Schau. Auf die Frage, ob die Begeisterung auf der Tribüne nur antrainiert sei, kann sie ungewohnt gereizt reagieren. Schon als 19-jährige Studentin habe sie im Mai 1974 beim Länderspiel DDR gegen England im Leipziger Zentralstadion gesessen, sagt sie dann: »Fußball zu sehen hat mir immer Spaß gemacht.«
Im Magazin der Süddeutschen Zeitung wurde Merkel vom früheren Tennisstar Boris Becker gefragt, wen sie gerne zu einer Dinnerparty einladen würde. »Dinnerpartys veranstalte ich nicht«, stellte Merkel erst einmal klar. »Aber zu einem Abendessen würde ich gerne Vicente del Bosque einladen.« Das war nur auf den ersten Blick eine Aussage zum Thema Fußball. Wahrscheinlich hätte Merkelauch jenseits des Sports kaum jemanden gefunden, dessen Lebensentwurf dem ihrigen so sehr ähnelt. Der spanische Nationaltrainer machte seine Mannschaft erst zum Weltmeister und zwei Jahre später auch zum Europameister, er erreichte in der Welt des Fußballs ungefähr so viel wie Merkel in der europäischen Politik. Gleichwohl lebt er im
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