Die Deutsche - Angela Merkel und wir
EINLEITUNG
Das Wort fiel hinter verschlossenen Türen im CDU-Vorstand. Es drückt womöglich besser aus als die meisten öffentlichen Verlautbarungen, was die Bundeskanzlerin über die Deutschen wirklich denkt. In der Öffentlichkeit würde sie so etwas nicht sagen. Der Satz bezog sich auf ein sehr spezielles Problem. Aber es klang, als spräche Angela Merkel aus diesem Anlass einen Gedanken aus, der sie schon lange umtreibt. Sie sagte: »Wir machen uns ja sonst zur Komikernation.«
Es war Montag, der 16. Juli 2012. Ende Juni hatte das Landgericht Köln die Beschneidung eines muslimischen Jungen als strafbare Körperverletzung bewertet. Das Urteil, das in der Konsequenz auch das entsprechende jüdische Ritual betraf, löste eine große öffentliche Debatte aus. »Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können«, sagte Merkel den Teilnehmern zufolge.
Drei Wochen lang setzte sich die Öffentlichkeit ausführlich mit der Frage auseinander, wie stark der Verlust der Vorhaut das sexuelle Empfinden des Mannes beeinträchtigt. Merkel hielt die Debatte aus mehreren Gründen fürsehr deutsch, im negativen Sinn. Ein Verbot der Beschneidung widersprach aus ihrer Sicht einer pragmatischen Alltagsvernunft im Zusammenleben der Religionen und Weltanschauungen. Die Sorge um die Vorhaut schien ihr zudem der Mentalität überempfindlicher Westdeutscher zu entspringen, die sich vor allem und jedem ängstigen – vor allem, wenn es die meisten von ihnen gar nicht selbst betrifft. Schließlich sah sie, da es auch um Juden ging, die deutsche Staatsräson berührt.
Hysterisch, verwöhnt, geschichtsvergessen: Sind das Eigenschaften, die Merkel den Deutschen nur in Bezug auf die Beschneidungsfrage attestiert? Niemand wird zum Komiker, weil er ein einziges Mal aus der Rolle fällt. Diese Diagnose wird gestellt, wenn das Verhalten einem Muster folgt – und der jüngste Ausfall nur ein weiteres Symptom ist, das dieses Bild vervollständigt. »Wir machen uns ja sonst zur Komikernation«: Verdichtete sich in diesem Satz das Deutschlandbild der Kanzlerin?
Offenkundig denkt Merkel über viele Themen anders als die Wähler, bei denen sie so populär ist. Das beginnt bei der schwersten aller Fragen, auf die ein Regierungschef zu antworten hat, der Entscheidung über Krieg und Frieden. Es geht weiter mit dem Verhältnis zu Amerika im Allgemeinen und zu dessen Präsidenten im Besonderen. Es gilt schließlich auch für die Innenpolitik: Auf dem Leipziger CDU-Parteitag des Jahres 2003 vertrat Merkel ein radikales Reformprogramm. Zwei Jahre später musste sie im Wahlkampf schmerzhaft lernen, dass diese Ideen in Deutschland nicht mehrheitsfähig waren.
Seit Beginn des griechischen Schuldendramas konntedie Bundeskanzlerin ihr reformerisches Drängen, mit dem sie zu Hause an Grenzen gestoßen war, auf andere Teile Europas verlagern. Hierzulande ist sie nun beliebter denn je. In den europäischen Krisenländern galt sie als die Zuchtmeisterin des Kontinents, in Amerika zeitweise als die Frau, die durch ihr Nichtstun den Absturz der Weltwirtschaft riskierte.
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg findet sich Deutschland nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch als Führungsmacht wieder, und Angela Merkel ist die Person, die diese Rolle verkörpert. Lässt sie Europa untergehen, schrieb die italienische Zeitung La Repubblica auf dem bisherigen Höhepunkt der Euro-Krise, wäre das die vierte Schuld der Deutschen nach den Weltkriegen und dem Holocaust.
Ob wir es wollen oder nicht, wir werden mit Angela Merkel identifiziert und identifizieren uns mit ihr. Vielerorts gilt sie im Positiven wie im Negativen als der Inbegriff alles Deutschen. Ihre Nüchternheit, ihre Sparsamkeit und ihre Reserviertheit sind für viele ein Ausdruck unseres protestantischen Erbes. Das Bild, das sich die Welt von Merkel macht, hat in der Mischung aus Bewunderung und Kritik große Ähnlichkeit mit dem Bild der Deutschen überhaupt. Effizienz und Prinzipientreue werden beiden gleichermaßen zugeschrieben, aber auch eine kühle Arroganz, die sich auf eigentümliche Weise mit einem ungelenken, bisweilen fast schüchternen Auftreten paart.
Dabei hat die Frau aus dem Osten mit den Stimmungen der Deutschen, vor allem im Westen des Landes, lange gefremdelt: mit der ehernen Selbstgewissheit, seit 1945 allesrichtig gemacht zu haben, mit den Ängsten und Empfindlichkeiten oder mit der Abwehr jeder Veränderung,
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