Die deutsche Seele
Lieber Leser,
sei gewarnt! Dies ist ein Buch, in dem du nicht gewarnt wirst vor dem Deutschen. Wir wollen dieses Land nicht in den Sektionssaal schieben, wir beugen uns nicht im weißen Kittel mit spitzem Werkzeug darüber, um einzig die kranken Stellen herauszuschneiden und unter dem Mikroskop zu betrachten. Wir sind keine Pathologen - wir sind Beteiligte. Getrieben von der Sehnsucht, die Kultur, in der wir leben, in all ihren Tiefen und Untiefen, in ihrer Größe und Schönheit, in ihren Schrullen und Fragwürdigkeiten zu erkunden.
Luft ist uninteressant, solange sie selbstverständlich ist. Erst wenn sie dünn wird, beginnst du, sie zu spüren. Erst wenn du sie zu vermissen beginnst, spürst du, dass da etwas ist, das du nicht verlieren willst.
Wir machen uns keine Sorgen, dass Deutschland sich abschafft. Wir sehen nur, dass es sich herunterwirtschaftet. Sein Gedächtnis verliert. Die einen haben die deutsche Scham, die keiner ablegen kann, der diesem Land entstammt, zum Schuldpanzer verhärtet, hinter dem sie sich verschanzen. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind ihnen weniger Schmach und Schmerz als der Beweis, dass alles Deutsche mit der Wurzel ausgerissen gehört. Die anderen tummeln sich in dem Kahlschlag, den die wohlmeinenden Nashörner angerichtet haben. Ihnen fehlt nichts, solange der Fernseher läuft und im Kühlschrank genügend Bier steht. Und dennoch spüren wir ein wachsendes Deutschlandsehnen.
Das Fußball-Sommermärchen hat uns gezeigt, dass wir die Scheu im Umgang mit Fahne und Hymne ablegen dürfen, und die Welt uns dennoch nicht erneut zu hassen beginnt, im Gegenteil. Aber was ist mit diesem »fröhlichen Patriotismus« gewonnen, wenn er sich darauf beschränkt, dass wir alle vier Jahre die schwarz-rot-goldenen Fähnchen aus dem Schrank holen? Haben dieses Land, seine Geschichte und seine Kultur uns nicht unendlich mehr zu erzählen?
Seit Jahren streiten wir darüber, welche Einwanderer dazugehören und welche nicht. Dient diese ganze Debatte nicht letztlich dem Zweck, von dem abzulenken, worüber wir eigentlich diskutieren müssten: Was von Deutschland noch zu Deutschland gehört? Was dieses Land ist jenseits der lexikalischen Auskunft, es sei ein föderalistischer, freiheitlich-demokratischer und sozialer Rechtsstaat in der Mitte Europas, gebildet aus 16 Bundesländern? Wir machen es uns zu einfach, wenn wir die Frage »Was ist deutsch?« reflexhaft abwehren und sie einzig im Verborgenen rumoren lassen. Jemand, der nicht weiß, wo er herkommt, kann auch nicht wissen, wo er hinwill. Er verliert die Orientierung, die Selbstgewissheit, den Lebensmut.
Deshalb sind wir auf Wanderschaft gegangen. Haben uns auf die Suche nach der deutschen Seele gemacht. Eine solche Suche kann keinem geraden Weg folgen. Wir haben uns leiten lassen von Begriffen, in denen uns das Deutsche am deutlichsten aufzublitzen scheint: Von »Abendbrot« bis »Männerchor«, von »Bruder Baum« bis »Fahrvergnügen«, von »Abgrund« bis »Zerrissenheit«.
Lieber Leser, folge auch du deiner Sehnsucht, deiner Neugier, deiner Leidenschaft! Du kannst das Buch mit jedem Artikel beginnen, dort weiterlesen, wohin es dich trägt. Du kannst aber auch den Wegweisern folgen, die wir am Ende eines jeden Textes aufgestellt haben.
Die Gedanken sind frei.
Abendbrot
Es ist karg. Es ist ein wenig pedantisch. Es ist liebevoll.
Seine Zubereitung erfordert keinen großen Aufwand, aber die wenigen Zutaten müssen mit Bedacht gewählt sein: Roggen-, Roggenmisch- oder Vollkornbrot, zu acht Millimeter dicken Scheiben geschnitten. Ein bisschen Butter. Käse (Tilsiter), Schinken (Schwarzwälder), Wurst (Jagdwurst). Und schön wäre eine saure Gurke, zum Ende hin blättrig aufgefächert. Die Brote werden mit der Butter dünn bestrichen, auf eins wird der Käse gelegt, auf eins der Schinken, auf eins die Wurst. Idealerweise entsprechen Form und Größe der Käse-, Schinken- und Wurstscheibe Form und Größe der Roggen-, Roggenmisch- oder Vollkornbrotscheibe. Nur so entsteht die Harmonie, die ein echtes Abendbrot auszeichnet.
Auch wenn man sein Abendbrot allein einnimmt, sollte man es keinesfalls stehend in der Küche oder vor dem Fernseher hinunterschlingen. Ein Abendbrot ist ein Abendbrot und kein Sandwich. Bei christlicher Neigung besinnt man sich aufs letzte Abendmahl, während man das Brot zwar nicht bricht, sondern voll Sorgfalt schneidet. Die protestantische Diätweisheit »Frühstücken wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein
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