Die deutsche Seele
mich eine Offenbarung! Hier zieh ich her!« Und seiner Lektorin kündigt er an: »Ich habe das Thema meines Lebensrestes: Im Berg!«
Das überschwängliche Vorhaben, dem Fühmann den Arbeitstitel Bergwerk gibt und das sein abschließendes Alterswerk hätte werden sollen, bleibt Fragment. Nicht nur, weil der Autor 1984 stirbt. Wenige Wochen vor seinem Tod gesteht er gegenüber einem der ehemaligen Kumpel: »Also Bergwerk ist nichts mehr […] Die Anlage ist völlig verfehlt und auch nicht mehr ausbesserbar. Ich kann Dir nicht erklären, warum; nimm es als Fakt.«
Liest man die 1993 postum unter dem Titel Im Berg herausgegebenen Texte und Textfragmente, kristallisiert sich jedoch ein erschütternd deutliches Bild heraus, warum der Schriftsteller »nichtproletarischer Herkunft«, der einst aus sozialistischer Überzeugung Bürger des deutschen »Arbeiter- und Bauernstaates« geworden war, an seinem letzten großen Buchprojekt scheitern musste. Verzweifelt analysiert er: »Der sozialistischen Gesellschaft zu dienen, war Gebot meines Lebens, Schaffen von Literatur dessen Sinn geworden, doch beides zu vereinen oder besser: ihr bislang selbstverständliches Eins-Sein zu wahren wurde immer mehr mein Problem.« Der Dichter mit den bildungsbürgerlichen Wurzeln geht den Bitterfelder Weg, mischt sich unter die proletarischen Kumpel - und stellt beschämt fest, dass er im Schacht nicht etwa daran denkt, ob die Norm zum Wohle des Staates erfüllt wird, sondern daran, mit welcher Lebensgier und Todessehnsucht sich E.T.A. Hoffmann, Tieck, Novalis und all die anderen romantischen Schwarmgeister in den Berg gestürzt haben. Hinabgesunken zu Ruinen und der Zukunft abgewandt … So verklingt »Glück auf! Glück auf! Der Steiger kommt! die stolze Hymne für den desillusio- SPD-Parteitag im Oktober 2008. nierten DDR-Schriftsteller.
Wie viel leichter hat es da sein Generationskollege Michael Ende, der im freien Westen sogar eine »unendliche Geschichte« zum Weltbestseller zu Ende erzählen kann! Der seine Helden hemmungslos nach Phantasien und dort ins »Bergwerk der Bilder« schicken darf, in dem ein blinder Bergmann nicht über Volkseigentum, sondern über die »vergessenen Träume der Menschenwelt« wacht. Auch Fühmann erlaubt sich zu träumen, »die Literatur sei ein Bergwerk, durch Jahrtausende Generationen befahren, und jeder Schriftsteller selbst sei eine Grube, und das Flöz, drin er haue, sei seine Erfahrung«. In einem Interview kurz nach dem Ende der deutschen Teilung gibt Michael Ende demselben Gedanken eine explizit nationale Wendung: »Ich bin der Meinung, dass die Romantik die bisher einzig original deutsche Kulturleistung war. Alles andere haben wir in Deutschland mehr oder weniger aus dem Ausland übernommen. In der Romantik ist zum ersten Mal etwas gelungen, das auch das Ausland interessiert hat. Deswegen habe ich versucht, dort anzuknüpfen, weil ich mich durchaus als deutscher Autor verstehe und weil ich der Überzeugung bin, dass diese Stimme, die eben typisch deutsch ist, nicht im Konzert der Nationen untergehen sollte.«
Was ist geblieben von den romantischen Abgründen, aus und in denen unzählige deutsche Dichter und Denker ihren Rohstoff bezogen? Die Angst vor Atommüllfässern, die in den Salzstöcken bei Gorleben vor sich hin rotten? Der sozialromantische Hauch, der kurz zu spüren ist, wenn die Genossen bei ihren SPD-Parteitagen immer noch das alte Bergmannslied Glück auf, Glück auf der Steiger kommt! anstimmen? Oder müssen wir uns damit abfinden, dass die romantischen Schächte ebenso versiegelt sind wie das gespenstische Reich aus Bunkern und Fabrikstollen, mit dem die Nazis ihren größenwahnsinnigen Traum vom »Dritten Reich« untertunnelt haben?
Günter Grass, der nobelpreisgekrönte Chefmoralist der Bundesrepublik, dem seine eigene Vergangenheit in der Waffen-SS jahrzehntelang entfallen war, hat unmittelbar nach dem Krieg in einem Kalibergwerk in der Nähe von Hildesheim gearbeitet. In seinem Roman Hundejahre, dem 1963 erschienenen letzten Teil der Danziger Trilogie, wird ein Bergwerk, »das weder Kali, Erz noch Kohle fördert und dennoch bis zur Achthundertfünfzigmetersohle in Betrieb ist«, zur grellen Zentralmetapher für die Bundesrepublik, die in den alten Stollen mit einem Furor weiterproduziert, als hätte es kein Gestern gegeben. Die unterirdische Fabrik, auf die der »bergfremde« Besucher nur mit dem Ausruf »Mein Gott, das ist die Hölle! Die wahrhaftige Hölle!« reagieren kann,
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