Die deutsche Seele
stellt Vogelscheuchen für den Export in alle Welt her - deutsche Vogelscheuchen aus deutschem »Schrott«, die mal die berühmte Heideggersche Zipfelmütze tragen und schnarrend übers »Gescheuch-sein« dozieren, mal als Bamberger Symphoniker in brauner Arbeitskluft etwas aus der Götterdämmerung spielen und mal über die Artikel des Grundgesetzes belehrt werden. Klar, dass der Hund, der am Schluss in dieser Hölle zurückbleiben muss, nur »Pluto« heißen kann.
Noch finden sich die Hundejahre nicht im »Oberrieder Stollen«, jenem stillgelegten Silberbergwerk im Schwarzwald, das die Bundesrepublik seit den 1960er Jahren zu ihrer unterirdischen »Schatzkammer der Nation« ausbaut und dem sich auch in Friedenszeiten kein militärisch Uniformierter auf drei Kilometer nähern darf. Atomkriegssicher, auf Mikrofilm gebannt, versiegelt in sechzehnfach verschraubten Edelstahlfässern, schlummern hier tief unter der Erde mittlerweile über eine Milliarde Dokumente, die nach Einschätzung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe geeignet sind, der Nachwelt zu zeigen, was es mit der deutschen Kultur und Geschichte auf sich hatte, sollte das Land eines Tages ausgelöscht werden. Dank des Kulturbunkers kann der interessierte Wiederentdecker auch in 1500 Jahren noch den Vertragstext des Westfälischen Friedens studieren, die päpstliche Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther, die Baupläne des Kölner Doms, Handschriften von Schiller und Goethe oder Partituren von Johann Sebastian Bach. Ebenso ist es dem Kulturbeflissenen der fernen Zukunft vorbehalten, jene Originalwerke von fünfzig zeitgenössischen deutschen Künstlern wie Jörg Immendorff und Christoph Schlingensief zu betrachten, die 2004 im Rahmen der Aktion »Verschluckung« edelstahlverschraubt in den »Oberrieder Stollen« gebracht wurden.
Unheimlich? Ja, wenn man an den Großbaumeister der Nazis, Albert Speer, und seine »Theorie des Ruinenwerts« denkt, die besagt, dass nur Baumaterialien verwendet werden dürfen und statische Überlegungen angestellt werden müssen, die ermöglichen, dass »Germania« in Hunderten (oder Tausenden …) von Jahren eine mindestens so pittoreske Ruine ergibt wie das antike Rom.
Auch wenn die Deutschen nicht die Einzigen sind, die nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen haben, Kunstkonserven endzulagern - die »Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten« aus dem Jahre 1954 ruft ausdrücklich dazu auf -, schimmert das alte Mentalitätsbild »gründlich, unergründlich, abgründlich« noch einmal durch.
Die Leidenschaft für den Abgrund darf keine unbedarfte sein. Jeder, der sich an die Absturzkante heranwagen will, sollte die beiden behutsamsten Verse im Sinn haben, mit denen der Abgrund je in der deutschen Literatur beschworen worden ist. Sie stehen zu Beginn des Gedichts Geheimes Deutschland von Stefan George. Ob der George-Jünger und gescheiterte Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg an sie gedacht hat, als er am 21. Juli 1944 kurz vor seiner Hinrichtung im Berliner Bendlerblock rief: »Es lebe das geheime Deutschland!«? Sie lauten:
»Reiss mich an deinen rand
Abgrund - doch wirre mich nicht!«
>Arbeitswut, Bergfilm, Doktor Faust, German Angst, Musik, Ordnungsliebe, das Unheimliche, Vater Rhein, Waldeinsamkeit, das Weib
Arbeitswut
1990 reiste ich von Frankfurt am Main nach Mailand. Mit dem Zug. Außer mir saß ein schwäbisches Ehepaar im Abteil, kurz hinter Mannheim stieg ein weiterer Mann hinzu, Italiener, wie sich bald herausstellte. Während die schwäbische Ehefrau den mitgebrachten Apfel entkernte und in gleichmäßige Schnitze zerteilte, begann ihr Ehemann, der noch an der zuvor hinübergereichten Wurststulle kaute, ein Gespräch mit dem Italiener. Dieser war Gastarbeiter, seit über zwanzig Jahren in Deutschland, und ja, er liebe Germania. Der schwäbische Ehemann versicherte ihm strahlend, dass er wiederum Italia liebe. Er und seine Frau seien zwar nur einmal dort gewesen, zwei Wochen Adria, aber die italienische Art habe ihm sofort imponiert. Er könne es nicht besser sagen: Der Italiener verstehe es einfach zu leben! Der so Gelobte bedankte sich mit einem höflichen Lächeln. Da murmelte die Ehefrau, die bislang geschwiegen hatte, ohne von ihrem Apfelschnitzwerk aufzublicken: »Abr schaffa muass mr scho.«
Bis heute weiß ich nicht, ob ich in jener Apfelschnitzerin eine zwanghaft verfehlte oder eine in höchstem Maße erfüllte Existenz
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